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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Es war seltsam.
    Christopher hatte noch nie jemanden geküsst. Mit vierzehn muss man noch keine Übung haben im Küssen. »Es ist so kalt«, wisperte sie. »Viel zu kalt, um alleine zu sein ...«
    Nicht, dass er etwas dagegen hatte, sie zu küssen. Es war ein wunderbares Gefühl. Er spürte ihre Zunge, warm und ein wenig rau, und die Nacht drehte sich um ihn. Er vergaß, wo oben und wo unten war.
    Zu Beginn dieser Nacht hatte er noch geglaubt, er würde sterben, und hier saß er im Schnee auf einem Felsen und küsste zum ersten Mal in seinem Leben ein Mädchen – das Mädchen, das er liebte. Denn er liebte sie.
    Natürlich.
    Er hatte es die ganze Zeit über gewusst, ohne es zugeben zu wollen.

Niyas Hände
    In einer klaren Nacht, unter dem Mond, irgendwo am Fuße des Himalaja, gerade außerhalb einer geschmolzenen Stadt aus Lehm – in einer Nacht, die zu kalt war, um alleine zu sein – fanden sich zwei Körper und verschmolzen zu einem winzigen, warmen Funken in der Weite der unendlichen Kälte. Wäre jemand vorbeigekommen, hätte er vielleicht ein Licht gesehen, ein unerklärbares Licht im Schnee. Oder vielleicht hätte er auch gar nichts gesehen.
    Aber es kam niemand vorbei. Die Nacht gewährte den beiden Frierenden ihre Privatsphäre, und dann froren sie nicht mehr, und dann –
    Christopher fühlte Niyas Hände, die sich einen Weg unter die tarngrünen Kleiderschichten suchten, und er ließ sie in einer Art stiller Verwunderung gewähren. Ihre Fingerspitzen brachten die Wärme in seinen Körper zurück – sie brachten eine neue Wärme, eine Wärme, die er bis jetzt nicht gekannt hatte. Und Niyas Hände wussten genau, was sie wollten.
    In einem Land, in dem man mit vierzehn alt genug ist, um zu kämpfen und mit dem Gesicht nach unten in den Schnee zu fallen, ist man mit vierzehn auch alt genug, um zu lieben.
    »Hast du dies schon einmal mit irgendjemandem getan?«, wisperte Christopher.
    »Nein«, flüsterte sie. »Aber ich weiß nicht, was morgen sein wird, und vielleicht ist es dann zu spät, um es jemals mit irgendwem zu tun. Ich habe daran gedacht, als ich alleine wach lag, all diese Nächte. Dass ich so nicht sterben möchte.«
    »Aber du wirst nicht sterben. Weshalb solltest du sterben?«
    »In den letzten Tagen dachte ich, ich muss sterben, weil alles so sinnlos ist«, wisperte sie. »Aber es gibt tausend Gründe zu sterben. Und tausend Gründe, es nicht zu tun.«
    Er ließ seine eigenen Hände einen Weg unter andere Kleiderschichten suchen, und alles, was sie fanden, war Leben, warmes, pulsierendes Leben.
    »Niya ... ich kenne mich nicht aus mit diesen Dingen ...«
    »Ich auch nicht«, flüsterte sie. »Diese Dinge kennen sich mit sich selbst aus. Das reicht.«
    So nahmen die Dinge, die sich ausschließlich mit sich selbst auskannten, in jener klaren Nacht, unter dem Mond, irgendwo am Fuße des Himalaja, ihren Lauf. Und Christopher war überrascht, wie selbstverständlich all dies mit einem Mal schien.
    Alles musste genauso sein, wie es war. Alles war gut.
    Als der Mond am Himmel ein Stück weitergewandert war, lagen sie dicht beieinander im Schnee, atemlos und ohne die Kälte zu spüren. Die Kälte existierte nicht mehr.
    Und Niya lauschte Christophers Geschichte. Diesmal erzählte er ihr alles, vom Anfang bis zum Ende, von Arnes Verschwinden und Jumars Knöchel in der Tierfalle bis zu ihrer ersten Begegnung in dem Dorf ohne Farben. Nur wer Jumar wirklich war, das erwähnte er nicht. Einer, der ausgezogen war, um die Welt zu ändern, sagte er – nicht ohne ein gewisses Schmunzeln. Als die letzten Worte seiner Geschichte verklungen waren, vergewisserten sie sich noch einmal – nur zur Sicherheit –, dass sie das Küssen nicht über anderen Dingen verlernt hatten. Danach nahm Niya ihre Gitarre wieder auf.
    Mein Herz ist gierig nach Frieden, sang ihre raue Stimme; leise jetzt, ganz leise.
    Frieden im Land meiner Väter. Mein Herz ist gierig nach Frieden, doch sie sagen: Der Frieden kommt später.
    Zuerst kommt die Faust, die hat mehr Gewicht, wer die Faust nicht erhebt, den sieht man nicht.
    »Das ist schon wieder eines der Lieder, dessen Geschichte schlecht ausgehen wird«, flüsterte er. »Wie die Märchen. Habt ihr keine fröhlichen Lieder und keine fröhlichen Märchen in diesem Land?«
    »Nein«, erwiderte sie und legte den Finger auf seine Lippen, ehe sie weiterspielte. Und Christopher schloss die Augen und lauschte ihrer Stimme:
    Mein Herz ist gierig nach Stille, Stille im Land meiner Väter.

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