Drachen der Finsternis
bezahlen für unsere Mühen«, sagten sie. »Warte nur, bald brauchst du dich um Geld nicht mehr zu sorgen, und du brauchst nie mehr im Schnee den Befehlen der Maos zu gehorchen.«
»Ich werde zurück zu meiner Familie gehen«, hatte der Mann geflüstert. »Sie warten auf mich. Ich habe fünf Kinder. Es ist ihretwegen.«
Da hatte es Jumar einen Stich versetzt, aber er wusste, was geschah, wenn es den Männern gelang, mit Kartan zu sprechen –er wusste es genauso gut, wie der große T es wusste: Nicht nur das Basislager, nicht nur das Leben all jener Männer und Frauen darin war in Gefahr. Der ganze große Plan, die Macht des Königs aus der Stadt zu holen, Kartan zu verjagen und die Drachen zu besiegen, würde in Sekunden zu einem Häufchen Asche aus Erinnerungen werden, Sand im Wind, nichts als ein ausgebrannter Traum.
Der große T war erst am Morgen von irgendwoher zurückgekehrt in die geschmolzene Stadt, und so hatte ihn Jumar viel zu spät erreicht. Doch nun waren seine Leute längst dort draußen im Wind unterwegs und suchten die Verräter, und die knisternde Spannung, die über dem Schlafraum gelegen hatte, hatte übergegriffen auf die ganze Stadt. Von diesem Tag an gab es Wachen an allen Ausgängen der Stadt, an allen Ausgängen des steilen Tales. Keiner konnte das Basislager mehr verlassen, ohne dass der große T selbst es ihm auftrug.
»Und dennoch brauche ich unsichtbare Ohren, die hören«, sagte er. »Unsichtbare Augen, die sehen. Einen unsichtbaren Mund, der mir Bericht erstattet. Ich muss wissen, was die Leute denken. Wer unter ihnen unzufrieden ist und die anderen aufstachelt. Wer nicht mehr in unserem Sinne handelt. Die Disziplin ist noch nicht streng genug.«
»Ich bin nicht gekommen, um ein Spitzel zu werden«, antwortete Jumar. »Ein Spitzel unter den eigenen Leuten! Ich bin gekommen, um mit meinen Händen gegen Kartans Leute zu kämpfen.«
»Mal ist es Zeit für das eine und mal Zeit für das andere«, sagte der große T, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wenn du bei uns bleiben willst, tust du, um was ich dich bitte.«
»Habt Ihr keine Angst, dass auch ich zu Kartan überlaufe und Euch verrate? Niemand könnte mich daran hindern.«
»Ich weiß, dass er versucht hat, dich zu töten«, sagte der große T. »Ich weiß mehr, als du denkst. Ich weiß, wer du bist.«
Jumar fühlte, wie das Blut seinen Körper verließ – wohin es wohl ging? –, und eine eisige Kälte machte sich in ihm breit.
»Und ich weiß«, sagte der große T, »dass es zwei Menschen im Lager gibt, die dir am Herzen liegen. Wenn ich dich zu fassen bekommen will, kann ich das ohne Weiteres tun. Was könnte dem Gegner des Königs Besseres passieren, als dass ihm sein einziger Sohn in die Arme läuft? Begreifst du nun?«
Und Jumar begriff. Sicher, er konnte das Lager noch heute verlassen. Doch dann würde Christopher etwas geschehen – Christopher und Niya. Er saß in der Falle. Wie schaffte er es nur, immer wieder und wieder in irgendeine Falle zu geraten?
»Ich könnte dich benutzen, um den König zu erpressen«, sagte der große T. »Aber ich tue es nicht, weil ich weiß, dass du auf unserer Seite bist. Weil ich weiß, dass du mir helfen wirst. Du wirst mir doch helfen?«
Jumar schluckte. »Ich werde tun, was Ihr verlangt«, antwortete er. »Aber was für ein Mensch seid Ihr nur?«
Der große T lachte. Es war ein trauriges Lachen. »Ein Mensch«, sagte er. »Irgendein Mensch. Kein Heiliger. Geh jetzt. Ich erwarte Ergebnisse.«
»Aber wenn dies die einzigen Verräter waren? Wenn es nichts zu hören gibt?«
»Es gibt immer etwas zu hören. Der Winter ist hart, und die Leute werden unzufrieden. Wir brauchen Beispiele, um die Disziplin zu stärken. Du wirst welche finden, noch vor nächster Woche.«
Einen Moment lang schoss Jumar ein überraschend heller Gedanke durch den Kopf.
Der Stolz, den er empfunden hatte, verwandelte sich in jenem Moment in Hass. Er hatte das Gewehr an der Tür abgeben müssen, wo die Wachen des großen T standen.
Aber was ist schon ein lebloses, totes Gewehr gegen lebendigen, atmenden Hass?
Jumar machte einen unsichtbaren, kaum hörbaren Schritt auf den großen T zu. Auf dem Schreibtisch lag neben einem Stapel Papiere ein Brieföffner. Er streckte die Hand danach aus. Sein Atem ging stoßweise, mühsam, und er musste sich zwingen, ihn leise zu atmen. Er könnte es tun. Er könnte versuchen, den großen T zu töten.
Er hatte noch nie jemanden getötet.
Der große T blickte
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