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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zur Tür, wo er Jumar vermutete.
    Er wartete darauf, dass die Tür sich öffnete und Jumar ging. Er ahnte nichts.
    Oder doch? Ahnte er? Ging er das Risiko ein?
    Jumars Hand blieb in der Luft hängen.
    »Du bist noch immer da«, sagte der große T.
    Jumar schluckte.
    »Ist es Euch nie in den Sinn gekommen«, flüsterte er, kaum hörbar, »Angst vor mir zu haben, weil ich unsichtbar bin?«
    »Wärst du sichtbar, hätte ich vielleicht Angst vor dir«, antwortete der große T.
    Jumar schwieg seine Frage in die kalte Luft.
    »Hätte der König einen sichtbaren Sohn, so könnte dieser Sohn zu den Menschen sprechen.« Seine Stimme malte Kringel in die Luft. Warum heizte er diesen Raum nicht? Fror er nicht?
    »Und er könnte versuchen, ein besserer König zu sein als sein Vater«, fuhr der große T fort. »Einen unsichtbaren König würden sie niemals akzeptieren. Sie hätten Angst vor ihm. Sie würde sich vor ihm verstecken. Aber niemand würde ihm zuhören. Er könnte nichts ... verändern. Du brauchst mich, um Dinge zu ändern. Viel mehr noch, als ich dich brauche.«
    Jumar ließ die Hand sinken, die noch immer über dem Briefmesser geschwebt hatte.
    Dann drehte er sich abrupt um und verließ den Raum.
    Der große T sprach die Wahrheit, und diese Wahrheit riss eine schmerzende Wunde in seine Eingeweide.
    Als er wieder in der Gasse stand, atmete er die scharfe, kalte Luft tief ein. Auf seiner Stirn begann der Schweiß in der Kälte zu gefrieren. Selbst wenn er das Briefmesser ergriffen hätte ... selbst wenn er zugestoßen hätte ... es hätte nichts genützt. Der große T hatte recht. Ein Unsichtbarer konnte die Menschen das Fürchten lehren, aber er konnte nie einer der ihren sein.
    In diesem Moment fasste Jumar einen Entschluss.
    Er würde sichtbar werden. Nicht, dass er wusste, wie. Aber er würde es tun. Und plötzlich atmete er freier. Plötzlich war ihm, als wäre er beinahe erstickt in jenem kahlen Raum mit Maos verblichener Fotografie und der verwelkten Blume an der Wand. Er beschloss, später irgendwann einmal zu lesen, was dieser Mao wirklich geschrieben hatte. Was er wirklich gewollt hatte. Dies hier konnte es nicht sein.
    Er musste eine Gelegenheit finden, mit Christopher zu sprechen. Wie oft hatte er in den ersten Nächten seit ihrer Trennung unbemerkt über seinen Schlaf gewacht! Aber schließlich hatte er seine nächtlichen Ausflüge zu jenem anderen Teil der Stadt eingestellt, und es war mindestens eine Woche her, dass er Christopher oder Niya gesehen hatte.
    Sie brachten die drei Männer gegen Mittag zurück. Sie konnten sich kaum auf ihren Pferden halten, und es war nicht mehr viel Leben in ihnen – aber der große T hatte befohlen, sie ihm lebend zu bringen, und das wenige Leben musste reichen.
    Jumar wollte nicht daran denken, was er mit ihnen tat.
    Es gab Dinge, die man nicht wissen musste.
    Am späten Nachmittag waren die Männer tot.
    Er sah zu, wie ein anderer Trupp versuchte, in der harten, gefrorenen Erde ein Loch auszuheben. Der große T stand daneben und rauchte. Die Spitze seiner Zigarette glomm in der klaren, kalten Luft auf, wenn er daran sog. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und bedeutete den Leuten, die Schaufeln wegzulegen. Es hatte keinen Sinn: Der Boden war bereits zu hart.
    Sie legten die drei reglosen, nackten Körper über die Rücken von Maultieren, und Jumar begleitete sie ungesehen aus der Stadt hinaus bis zu jenem felsigen Nadelöhr, durch das sie gekommen waren. Dort kletterte ein kleiner, flinker Mann auf einen der Felsen und zog die Körper nacheinander an einem Seil zu sich hinauf, um sie oben auf den nackten Stein zu betten.
    Jumar blieb eine Zeit lang neben den Wachen am Nadelöhr sitzen. Er beobachtete, wie sich die schwarzen Umrisse von Vögeln von den Bergrücken hinabschwangen – erst nur einer, zwei, dann immer mehr –, sie zogen ihre Kreise tiefer und tiefer, er hörte ihre Schreie, und er sah ihre riesigen Schwingen im letzten Licht des Tages: Lämmergeier, die größten Vögel des Landes. Sie waren gekommen, sich um die Toten zu kümmern. Als sie auf dem Felsen landeten, wandte sich der Thronfolger Nepals ab und ging zurück, hinunter ins Tal. In der geschmolzenen Stadt flackerten die ersten Lichter auf.
    Die drei Verräter waren tot, doch offenbar hatten sie mit jemandem draußen gesprochen, denn der große T blieb nervös. Man hörte im Lager, er habe beschlossen, seine drei Geiseln aus dem Basislager zu entfernen. Noch war ihre Zeit nicht gekommen,

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