Drachen der Finsternis
geworden – und dann verschwindet er einfach wieder?«
»Keine Sorge«, sagte in diesem Moment jemand hinter ihnen, und Jumar und Christopher wirbelten gleichzeitig herum. Dort, in der schmalen Gasse über ihnen, stand Niya, das schwarze Haar wilder denn je, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Leuchten in ihren Augen war wieder heller. Und sie hatte ihr Lächeln mitgebracht.
»Wir können euch nicht befreien«, sagte sie. »Noch nicht. Aber wir werden euch begleiten. Ich habe da so eine Idee.«
Als Christopher in dieser Nacht wach lag und in die Dunkelheit starrte, war ihm, als müsste jeder andere im Raum sein Herz klopfen hören. Es zersprang beinahe – vor Freude darüber, dass er endlich seinen Bruder gefunden hatte und dass Jumar wieder aufgetaucht war, bereit, mit ihnen fortzugehen. Und vor Angst.
Würde Niyas Plan funktionieren?
Würde es ihnen gelingen, das Nadelöhr zwischen den Felsen zu überwinden, ohne dass man sie entdeckte?
Als der schlaflose Wind durch die Gassen zu fegen begann, glitt Christopher lautlos unter seiner Decke hervor und schlüpfte nach draußen, genau wie er es auch in der Nacht zuvor getan hatte. Die Erinnerung an jene unwirkliche Nacht gab ihm noch immer Kraft. Und er brauchte alle Kraft, die er kriegen konnte. Er unterdrückte den Husten in seiner Kehle mit aller Macht. Der Husten konnte tödlich sein, konnte sie verraten.
Christopher folgte dem Wind und wusste, dass es Jumar war. Und während er im Sternschatten der Hauswände hinter ihm herhuschte, dachte er an die Worte zurück, die Niya bei ihrem Abschied gesprochen hatte: »Ich allein weiß«, hatte sie gesagt, »was mit denen passiert, die sie zurückbringen. Und es soll nicht mit uns geschehen. Wenn sie einen von uns schnappen, dürfen die anderen nicht zögern. Dann müssen wir auf ihn schießen.«
»Auf ihn ... schießen?«, hatte Christopher gefragt.
»Ihn töten«, hatte Niya geantwortet. »Das heißt: dich oder mich. Glaub mir, es ist besser zu sterben, als zum großen T zurückgebracht zu werden.«
»Niya – ich könnte niemals, niemals auf dich schießen.«
Sie hatte ihn fest angesehen, die Glut in ihren Augen beißend.
»Versprich mir, dass du es tun wirst, wenn es sein muss. Versprich es.«
»Ich verspreche es.«
Die Worte saßen in seiner Kehle wie ein schwarzer, bleierner Klumpen, als Christopher Jumar jetzt durch die Nacht folgte. Er sah sich nicht um, denn wer sich umsieht, zeigt seine Angst. Wie groß waren ihre Chancen? Hatte schon jetzt jemand bemerkt, dass er nicht mehr neben den anderen schlief? Allein die wenigen Minuten, in denen er mit Arne und Niya und Jumar gesprochen hatte, waren ein beinahe untragbares Risiko gewesen – er hatte sich im allgemeinen Aufruhr des Abends wieder hinter den Trupp zurückfallen lassen und später ein Hinken gemimt, als wäre er gefallen. Aber hatten sie es ihm abgenommen? Oder gab es jetzt schon Augen hinter ihm in der Dunkelheit, die beobachteten, Münder, die Bericht erstatten würden – so, wie der große T es von Jumar verlangt hatte?
Sie erreichten den Schuppen neben dem Haus, in dessen Keller die Gefangenen saßen, und der Windstoß, der Jumar war und einen Schlüssel hatte, ließ die Tür vor Christopher lautlos aufschwingen. Drinnen zeichneten sich die dunklen Umrisse von Kisten und Säcken ab. Dies war einer der Lagerräume für die Vorräte. Die Körbe, die die kleine Gruppe in dieser Nacht mitnehmen sollte, standen gepackt und verschnürt am Eingang, schwer von Wasserflaschen, Nahrungsmitteln und Munition. Diesmal würden keine Maultiere den Zug begleiten, denn dort, wohin sie hinaufzusteigen planten, kam kein Maultier mehr nach. Träger würden die Ausrüstung schleppen, Träger aus der Stadt, die den Maoisten schon lange dienten und die nicht nur schwere Lasten gewohnt waren, sondern auch jeden Pfad weiter oben in Bergen kannten. Christopher hatte sie gesehen, sie wickelten Riemen um die Körbe, deren eines Ende sie sich um die Stirn schlangen, und so schleppten sie Lasten, über die man nur staunen konnte.
Niya grüßte ihn mit einem Nicken und einem Finger an ihren Lippen. Sie war bereits dabei, zwei der Körbe leer zu räumen und ihren Inhalt weiter hinten zwischen den Kisten zu verstecken. Christopher half ihr schweigend. Kalter Schweiß lief an ihm hinab, und seine Finger zitterten unkontrolliert. Immer wieder hielt er inne, um zu lauschen. Noch blieb die Nacht in der Gasse draußen still und schrittlos. Jede Minute, jede Sekunde
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