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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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begannen plötzlich zu schwanken und kullerten den Hang wieder hinunter. Die Träger sprangen auf und rannten ihnen nach, doch die schweren Körbe rollten schneller und schneller, und dann rollten sie in einen Einschnitt zwischen den Hängen hinein, in den sie ihnen nicht nachsteigen konnten, ohne wertvolle Zeit zu verlieren – zu viel wertvolle Zeit.
    So fluchten sie nur, und von da an schleppten die Träger die übrigen Vorräte abwechselnd. Was sie hatten, musste reichen.
    »Vielleicht ist es besser, dass wir die beiden Körbe nicht eingeholt haben«, sagte einer der Männer. »Vielleicht ging da etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hier, wo das Land höher und höher wird, ist es voll von Geistern. Sie sind mit den Tibetern gekommen, die vor der Politik ihres eigenen Landes hierher geflohen sind, und sie sind immer noch da –«
    Christopher fühlte sich so zerschlagen und zerschunden wie nie, als Jumar ihn endlich, endlich aus dem Packkorb befreite. Er kam nur mühsam auf die Beine, doch als er stand und sich streckte, da schien der Himmel über ihm höher und die Luft klarer denn je.
    »Wir haben es geschafft«, sagte er verblüfft.
    Neben ihm stand Niya. Sie trug ihr Gewehr über der Schulter, und auch Christopher trug das seine. Schwer und schwarz schmiegte es sich an seinen Körper; ein treuer Begleiter, dessen Liebe er nicht zu erwidern vermochte.
    »Ja«, sagte Niya. »Wir haben es geschafft.«
    »Wir haben es geschafft«, sagte auch Jumar.
    Und sie umarmten sich alle drei, was sicherlich ein seltsames Bild abgab, da man einen von ihnen nicht sehen konnte.
    »Verflixt«, sagte dieser eine. »Jetzt wird es Zeit, die übrigen Kleider anzuziehen, denn jetzt wird es kalt werden. Niya, hast du das Bündel, das ich dir gegeben habe?«
    Und dann zog jemand Unsichtbares zwei Paar Socken in den Stiefeln an, die er bis jetzt zum Zweck der Unsichtbarkeit barfuß getragen hatte, und einen weiteren Pullover, eine weitere Mütze und eine grüne Tarnjacke, einen zweiten Schal und noch eine Schicht dicker Handschuhe sowie eine weitere Hose ... und neben Christopher und Niya wurde jene zweite Kleiderschicht nebst Stiefeln sichtbar. Sonst nichts. Von Weitem hätte man Ju-mar für einen ganz normalen Wanderer halten können – einen sehr dich angezogenen Wanderer –, aber von Nahem, so ohne Gesicht, gab er ein seltsames Bild ab.
    »Ein wandelnder Kleiderhaufen«, sagte Niya und lachte.
    »Haha«, sagte Jumar.
    »Aber jetzt«, sagte Christopher, »dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen aus diesem Tal heraus und den Pfad wiederfinden, den sie genommen haben.«
    Das Tal jedoch weigerte sich, die drei ungleichen Wanderer wieder gehen zu lassen.
    Es sträubte sich mit felsigen Zähnen und dornigen Klauen gegen sie, wehrte sie mit Mäulern voller Geröll ab, das unter ihren Füßen ins Rutschen geriet, und zog sich eine Wolkendecke aus Dunkelheit an, um ihnen die Sicht zu nehmen.
    Als sein feindliches, zerklüftetes Gesicht endlich, endlich hinter ihnen lag, war es bereits Morgen. Dort jedoch, wo sie herausgekommen waren, gab es keinen Pfad.
    Sie bahnten sich ihren Weg am Rande des Tales entlang durchs Gestrüpp, folgten eine Zeit lang einem schmalen, geschlängelten Weg, der sich wieder im Nichts verlor, glaubten in jedem Schotterstreifen, jedem Wildwechsel einen Pfad zu entdecken und wurden doch jedes Mal enttäuscht. Christopher spürte, wie die Verzweiflung in ihm hochstieg.
    Er blieb stehen und sah sich um. Nein, da war nirgends ein Zeichen, das jemand vor ihnen hier entlanggewandert war. Und die Ferne der Berge breitete sich ohne ein Zeichen menschlichen Lebens vor ihnen aus. Er sah ihre schneebedeckten Spitzen jetzt deutlich vor dem blauen Himmel eines wundervollen Morgens –
    eines Morgens, der danach schrie, auf ein Foto gebannt zu werden. Genauso hatten die Gipfel des Himalaja in dem Bildband ausgesehen, mit dem er vor einer halben Ewigkeit zu Hause auf sein Bett geklettert war.
    Damals hatte er ihre Schönheit bewundert.
    Jetzt begann er, sie zu hassen. Sie hatten Arne verschluckt – er war ein zweites Mal verschwunden.
    Niya begann, leise zu singen, während sie weiterwanderten:
    Du sagst, du liebst mich,
solange die Sterne dort stehen.
Du sagst, du liebst mich,
solange die Winde wehen.
Du sagst, du liebst mich,
aber ich kann dich nicht sehen,
mein Geliebter
ist unsichtbar ...
    »Ich habe das Lied schon von anderen gehört«, sagte Jumar. »In der geschmolzenen Stadt. Es – es geht nicht wirklich um einen

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