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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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doch sie waren ein Schatz; die wertvollste Waffe, die er besaß.
    Jumar schlüpfte lautlos zwischen den vom Training heimkehrenden Trupps hindurch.
    Die schmale, gewundene Gasse, an deren Ende er die Gefangenen wusste, war still und menschenleer. Erst wenn die Nacht tief genug war, würde der große T seine Leute losschicken, die Geiseln fortzubringen. Vier geschmolzene Stufen aus Lehm führten hinunter zu dem winzigen Kellerfenster, das Jumar erst vor Kurzem entdeckt hatte.
    Dort stand schon jemand. Jumar prallte zurück. »Christopher!«, flüsterte er dann.
    Christopher fuhr herum.
    »Ich bin es, Jumar!«
    »Ein Glück«, wisperte Christopher. Tränen standen in seinen Augen.
    »Man hört, dass sie die Gefangenen fortbringen wollen, noch höher hinauf in die Berge«, sagte Jumar leise. »Heute Nacht.«
    »Meine Reise wäre beinahe zu Ende gewesen«, sagte Christopher tonlos. »Niya wusste, wo sie den Schlüssel verwahren. Doch er ist nicht länger dort. Wenn sie sie heute Nacht fortbringen, haben wir vielleicht nie wieder eine Chance.«
    Jumar legte ihm eine umrisslose Hand auf die Schulter. »Es ist höchste Zeit, dass auch wir fortgehen«, flüsterte er. »Wir werden deinen Bruder nicht aus den Augen verlieren.«
    »Auch du?«, wisperte Christopher. »Du bleibst nicht beim großen T?«
    »Nein«, sagte Jumar, »es war alles ein Fehler. Aber jetzt ist keine Zeit für Erklärungen –«
    »Wohin willst du gehen, Jumar?«, flüsterte Christopher.
    »Frag mich das übermorgen noch mal«, antwortete Jumar. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur eines. Ich werde sichtbar werden. Irgendwie. Ich muss es tun.«
    »Wie bitte?«, fragte Christopher. »Wieso –?«
    »Scht! Später.«
    Er versuchte zu lachen, aber es glückte ihm nicht.
    Schließlich trat er neben Christopher und blickte ins Dunkel hinter dem Gitterfenster. Es war wie das Fenster eines Raubtierwaggons auf alten Bildern vom Zirkus. Und von drinnen schlug ihnen der gleiche Geruch entgegen, vermischt mit der kühlen Muffigkeit von Kellerluft und Lehmwänden.
    Direkt hinter dem Gitter aber machte er in der dichter werdenden Dunkelheit ein Gesicht aus: ein Gesicht, umrahmt von wirrem, hellem Haar, verborgen unter einem wachsenden, blonden Bart. Doch der Mund und die Augen in diesem Gesicht lächelten. Sie lächelten Christophers Lächeln. Jumar versuchte, das Lächeln zu erwidern.
    »Ich – ich bin Jumar«, stotterte er, und etwas wie Scham stieg im Kronprinzen Nepals auf. Er schämte sich für sein Land, in dem ein Fremder in einem Kellerloch hinter einem Eisengitter landete. Nicht, dass er oder das Land etwas dafür konnten. Die Dinge waren außer Kontrolle geraten. Dennoch schämte er sich.
    »Und du – du musst Arne sein.«
    »Das sage ich mir auch jeden Tag«, antwortete der junge Mann mit dem blonden Bart. »Allerdings habe ich gestern in einer Ecke hier die Scherbe eines Spiegels gefunden, und da war ich mir nicht mehr so sicher.«
    Er legte die Stirn in Falten. »Das ist schon eine irre Geschichte, die Christopher mir da erzählt hat, und wie er eure Sprache spricht! Es hat mich so viel Schweiß und Nerven gekostet, sie zu lernen, aber er spricht sie einfach! Und wie er hergekommen ist! Und dass du unsichtbar bist! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ich sehe ja, dass er hier ist, und ich höre, dass du hier bist. Nur begreifen – begreifen tue ich nichts von alldem.«
    Seine Stimme klang amüsiert, als hätte er gerade nach einem ausführlichen Essen in einem guten Buch eine Geschichte gelesen, die er nicht recht glauben konnte. Sie klang nicht nach der Stimme von einem, der seit Wochen in einem dunklen Kellerloch sitzt, während es draußen schneit und friert.
    »Wie geht es den anderen beiden, die mit dir da drin sind?«, fragte Jumar.
    Da wurde Arnes Stimme ernst. »Nicht gut«, sagte er. »Zurzeit schlafen sie. Sie sind beide krank, aber um den einen mache ich mir wirklich ernsthafte Sorgen. Es wäre schon eine feine Sache, wenn wir bei Gelegenheit hier herauskämen und diese beiden in ein Flugzeug nach Hause setzen könnten.«
    »Ja«, seufzte Christopher, »das wäre fein. Aber wir wissen noch nicht einmal, wie wir selbst aus dieser Stadt herauskommen.«
    »Hey«, sagte Arne, und das Lachen, das in seiner Stimme mitklang, wirkte jetzt bemüht. »Wenn sie uns heute Nacht fortbringen, lasst ihr uns doch nicht hängen, oder? Ich meine, da taucht mein kleiner Bruder aus dem Nichts im Himalaja auf und ist plötzlich beinahe ein Maoist

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