Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
unsichtbaren Geliebten, nicht wahr?«
    »Ich denke, es geht um einen, den man nicht sehen kann, weil er fortgegangen ist.«
    »Hm«, machte Jumar, »das dachte ich mir.«
    Er schwieg eine Weile, und Christopher spürte, dass er über etwas nachdachte. Und plötzlich erinnerte er sich daran, was Jumar gesagt hatte, als sie sich in der geschmolzenen Stadt wiedergetroffen hatten.
    »Jumar«, begann er, zögernd. »Ist es wahr? Willst du ... willst du wirklich sichtbar werden?«
    Niya blieb so abrupt stehen, dass Christopher mit ihr zusammenstieß.
    »Wie bitte?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete Jumar. »Ich, äh ... ich habe einen Entschluss gefasst.«
    Sie warteten, schweigend.
    Jumar räusperte sich ausführlich. »Wenn es eines gibt, was ich auf dieser Reise bis jetzt gelernt habe«, sagte er, »dann ist es, dass man nur etwas bewirken kann, solange die Leute einen sehen. Ich habe es satt, Dinge durch die Luft schweben zu lassen wie ein mittelmäßiger Zauberer, um jemanden zu beeindrucken. Ich möchte die Leute dadurch beeindrucken, was ich tue und was ich sage. Ich habe es satt, mir deinen Körper zu leihen, Christopher ...«
    »Vielen Dank. Ich war bisher ganz zufrieden mit meinem Körper.«
    »Das meine ich nicht! Ich habe es satt, dich in Gefahr zu bringen. Ich ... ich möchte einen eigenen Körper besitzen, einen, den ich nicht nur spüre. Ich möchte durch eine Tür in eine der Hütten treten und sagen: Hier bin ich – ich, Jumar, und niemand sonst. Ich habe es satt, ein Phantom zu sein, ein Geist, ein unheimliches Schattengeschöpf. Manchmal zweifle ich beinahe selbst daran, dass es mich überhaupt gibt! Ich möchte in einen Spiegel sehen und wissen, dass ich existiere. Ich habe es satt, die Dinge hintenherum zu erledigen, um tausend Ecken, mit tausend Leuten, auf die ich angewiesen bin wie ein Kind. Und ich habe es so satt zu lügen. Wenn ich irgendwas bewirken will, gibt es nur eine Lösung: Ich muss sichtbar werden.«
    Niya erhob die Hände und klatschte langsam. Das Geräusch breitete sich zwischen den Gipfeln aus, schwebte in die Ferne und teilte vielleicht dort den höchsten Felsen den Entschluss des nepalesischen Thronfolgers mit. Ein Hauch von Feierlichkeit wehte mit dem Wind durch die Luft.
    »Moment«, sagte Christopher. »Erst willst du die Maos umbringen, dann willst du Mao werden ... und jetzt willst du sichtbar werden?«
    »Man kann ja nicht immer alles im Voraus wissen«, murmelte Jumar verlegen. »Ich bin erst vierzehn, und woher soll man mit vierzehn wissen, was man will?«
    Das war allerdings eine gute Frage, und Christopher schwieg.
    »Wichtig ist auch nicht, was ich bin«, sagte Jumar. »Wichtig ist, was aus diesem Land wird.«
    »Weise, weise«, sagte Niya.
    »Mach dich nur lustig über mich«, zischte Jumar. »Es ist doch wahr! Alle ziehen an irgendeiner Ecke an diesem Land und seinen Leuten. Die Drachen werden es kahl fressen, und Kartan und der große T werden in Schutt und Asche legen, was davon übrig bleibt. Nur einer, der sichtbar ist, kann das alles verhindern.«
    »Und nur einer«, flüsterte Christopher, »der vierzehn ist, kann glauben, es wäre möglich.«
    Aber er flüsterte so leise, dass Jumar ihn nicht hörte. Und er war selbst zu sehr vierzehn, um nicht noch zu hoffen.
    »Und – wie willst du es anstellen, sichtbar zu werden?«, fragte er schließlich.
    »Darüber denke ich noch nach«, sagte Jumar ernst. »Niya hat mich einmal gefragt, weshalb ich mich nie bemüht habe ... nun: herauszufinden, weshalb ich unsichtbar bin. Vielleicht ist es das, was ich zuerst tun muss.«
    Er hatte kaum ausgesprochen, da fing es wieder an zu schneien. Sie sahen zu, wie dicke Flocken das weglose Land bedeckten und die Geräusche dämpften.
    »Wenn wir jetzt zuerst herausfinden müssen, wie du sichtbar wirst, verlieren wir eine Menge Zeit«, sagte Niya. »Sollten wir nicht an einem Plan arbeiten, wie –«
    Ein Windstoß fuhr von der Seite her in den Tanz der Flocken und wirbelte sie durcheinander – ein zweiter folgte. Da verstummte Niya und sah zum Himmel hinauf, der jetzt aus tief hängenden weißen und grauen Schlieren bestand.
    Nichts von dem blauen Morgen war geblieben. Kurz darauf senkte sich der Vorhang aus wirbelnden Schneeflocken auch auf die nähere Umgebung, und bald sahen sie nicht mehr, wo sie hingingen.
    Der Schnee schnitt winzige Wunden aus glühender Kälte in Christophers Gesicht. Die Kleidung, die sie in der geschmolzenen Stadt bekommen hatten, hielt sie warm – aber

Weitere Kostenlose Bücher