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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Stunde im Internet veröffentlicht worden, gemeinsam mit der offiziellen Erklärung einer nepalesischen Maoistengruppie-rung, den seit mehreren Wochen verschwundenen jungen Männern auf dem Bild ginge es gut.
    »Im Falle, dass es zu kämpferischen Auseinandersetzungen um die Hauptstadt Kathmandu kommt«, las der Nachrichtensprecher vor, »fordern die Maoisten absolute Neutralität und keinerlei Einmischungen von außerhalb; keinerlei Unterstützung des Militärs durch andere Länder. Zwei der Männer auf dem Foto stammen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, einer aus Deutschland. Bisher ist weder bekannt, wo genau sie festgehalten werden, noch, ob und wann die Maoistengruppie-rung plant, Kathmandu geschlossen anzugreifen, um den König gewaltsam zu stürzen ...«
    Das Bild wechselte abermals, hinter dem Ansager erschien eine Wetterkarte.
    Christopher atmete langsam aus. Seine Eltern hatten es natürlich schon gewusst. Jemand musste sie sofort angerufen haben, als das Bild aufgetaucht war. Er beobachtete ihre Gesichter im Licht der Wetterkarte. Und ihm fiel auf, wie klein seine Mutter auf einmal wirkte. Als wäre sie in der Zeit, in der Christopher nicht da gewesen war, geschrumpft. Aber – war er jetzt da? Und wenn er jetzt da war, wo war er vorher gewesen?
    Weshalb lag der Bildband vor ihm auf dem Sofa?
    Unter der Wanduhr hing ein Abreißkalender an der Wand. Der Kalender zeigte den zehnten November, und Christopher rechnete nervös. Seit dem Tag, an dem er in seinem Zimmer auf dem Bett gesessen und den Bildband aufgeschlagen hatte, waren ungefähr vier Wochen vergangen.
    »Der – äh – Bart«, murmelte Christophers Vater. »Der Bart steht Arne, nicht wahr?« Christopher hörte, wie er sich bemühte, fröhlich und unbeschwert zu klingen.
    Seine Mutter nickte schwach. Dann schüttelte sie den Kopf.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich leise.
    Christophers Vater stand von seinem Sessel auf, setzte sich neben sie und legte die Arme um sie. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.
    »Wenn wenigstens Christopher wieder sprechen würde«, hörte er seine Mutter flüstern. »Wenigstens das.«
    »Er wird schon wieder damit anfangen«, sagte sein Vater. »Er hat eben seine eigene Art, die Dinge zu verarbeiten.«
    »Es macht mir Angst«, flüsterte sie. »Es ist, als würden wir sie beide auf einmal verlieren.«
    Christopher öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Warum glaubte sie, er spräche nicht? Aber was sollte er sagen? Ihm fiel nichts ein, und er schloss den Mund wieder.
    Der Bildband war auf einer Seite aufgeschlagen, die ihm bekannt vorkam – natürlich. Da war sie. Die geschmolzene Stadt.
    Er blätterte die Seite um und sah sich einem Bild von einem hohen Berg gegenüber, der spitz zulief wie ein gleichschenkliges Dreieck mit leicht geschwungenen Außenlinien. Ein Fischschwanz, dem oben der Fisch fehlte. Auf dem Bild war der Berg ganz nah, und das Eis seiner Gletscher glänzte im Sonnenlicht. Die Flanke, die er dem Betrachter zuwandte, sah nicht aus, als könnte man sie besteigen. Er sah überhaupt nicht aus, als wäre er gnädig zu Wanderern, die seine Höhen erklimmen wollten.
    Die Wolken, die von links in den sonnigen Fotohimmel hineinzogen, verkündeten Schnee.
    »Ich werde den Kamin anmachen«, sagte Christophers Vater. »Ein wenig Wärme kann an einem so ungemütlichen Novemberabend keinem schaden.«
    Er stand vom Sofa auf und lächelte Christopher zu, und Christopher lächelte zurück. Er wusste, dass er irgendetwas sagen musste, denn offensichtlich glaubten sie, er hätte seine Sprache verloren. Aber das Einzige, was ihm einfiel, war die Frage: Wieso bin ich hier?
    Und er hatte nicht das Gefühl, dass diese Frage seine Eltern im Moment beruhigt hätte. Er hatte das Gefühl, sie hatten überhaupt nicht gemerkt, dass er fort gewesen war.
    In der Küche klapperte seine Mutter jetzt mit Geschirr, und es roch nach Auflauf.
    Gleich darauf hörte er das Prasseln des Feuers im Kamin, und eine wunderbare Wärme breitete sich in ihm aus.
    Aber schon während er sie fühlte, merkte er, dass die ganze Szene von ihm abrückte – der weiche Wohnzimmerteppich unter ihm, der Duft des Essens, die Gestalt seines Vaters vor dem Kamin, es war, als zöge ihm jemand das alles unter den Füßen weg. Wie gerne wäre er geblieben! Er war so müde, und so verzweifelt, und so hungrig!
    Er wollte die Arme ausstrecken, um etwas von der Szene festzuhalten, doch alles, was seine Finger berührten, waren die glatten, kühlen

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