Drachen der Finsternis
nur für eine begrenzte Zeit. Und sie verließen die Grenzen dieser Zeit bald.
Er stapfte Niya mit gesenktem Kopf hinterher, und Jumars Worte vermischten sich in Christophers Kopf mit seinen eigenen Gedanken zu einem bunten Kaleidoskop aus wahnwitzigen Scherben.
Die Drachen ... Arne ... nur einer, der sichtbar ist ... Schutt und Asche ... die Maos ... Kartan ... der große T ... das alles verhindern ... die Kälte ... die Kälte ... die Kälte ...
Er blieb stehen und sah sich nach der Tarnjacke und den Fäustlingen um, die gesichtslos hinter ihm über dem Schnee schwebten.
»Was wollen wir überhaupt in diesen verdammten Bergen?«, schrie er gegen den Schnee und den Wind an. »Die Welt retten oder was? Drachen besiegen? Heere aufhalten? Drei Vierzehnjährige alleine in den Bergen? Es ist sinnlos, vollkommen sinnlos! Es war von Anfang an sinnlos. Wir werden sie nie finden, wir finden nicht mal unseren eigenen Weg! Was soll ich mit einem Gewehr, wenn ich erfriere? Sieh es ein, Jumar! Niya! Wir haben kein Ziel mehr. Wir haben Arnes Spur verloren. Wir haben keine Ahnung, wo wir sind! Was tun wir hier eigentlich?«
»Überleben!«, rief Jumar. »Du Idiot! Alles andere ist im Moment egal!«
»Ach was, überleben. Wir können genauso gut hierbleiben und warten, bis der Schnee uns zudeckt und alles zu Ende ist.«
»Dann bleib von mir aus«, sagte Jumar. »Ich gehe weiter. Niya?«
Christopher spürte Niyas Arm um seine Schultern.
»Du brauchst Schlaf, flüsterte sie. »Dringend.«
Christopher riss sich los. »Schlaf?«, rief er, aber seine Stimme war zu heiser zum Rufen. »Weißt du, Niya, dass das das Einzige ist, was wir sehr bald bekommen? Einen langen, langen Schlaf. So lang, dass wir nie wieder daraus aufwachen.«
»Halt den Mund«, sagte Jumar. »Aufgeben kannst du alleine.«
»Und du?«, flüsterte Christopher. »Du weißt ja nicht einmal, wohin du unterwegs bist. Erst willst du die Aufständischen vernichten, dann Kartan ... jetzt willst du auf einmal sichtbar werden, und als Nächstes fällt dir ein, dass wir eigentlich nur hier durch die Berge wandern, weil du Turnschuhe brauchst!«
Da lachte Niya das Lachen, das nur sie lachen konnte, und es war, als berste eine Schale aus Eis, die sich um Christopher herum gebildet hatte, und er lachte mit.
Und schließlich lachte auch Jumar.
»Gelbe Turnschuhe mit schwarzen Punkten«, sagte er.
Nicht viel später entdeckten Niyas erfahrene Augen unter einer überhängenden Felswand eine Art natürlicher Höhle, und dort fanden sie Schutz vor dem Schnee und kauerten sich aneinander wie drei Tiere. Und es war dort, dass Christopher den seltsamsten, wirklichsten Traum seines Lebens hatte. Einen Traum, wirklicher als die Geschichte, in der er feststeckte.
Zwischenspiel
Er saß auf dem Teppich, im Wohnzimmer, die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt.
Zuerst konnte er das unstete Flackern nicht deuten, das den Raum ausfüllte. Aber schließlich begriff er, dass es der Fernseher war, dessen rasch wechselnde Bilder merkwürdige Schatten an die Wände malten.
Im Fernsehen liefen die Nachrichten. Christopher sah sich um. Die große Wanduhr zeigte fünf Minuten nach acht. In dem eckigen blauen Sessel saß die aufrechte Gestalt seines Vaters, hinter Christopher auf dem Sofa seine Mutter. Seltsam genug – er selbst hatte noch immer den aufgeschlagenen Bildband von Nepal vor sich liegen.
Draußen wurde es schon dunkel. Die langen, heimlichen Figuren der Herbstschatten schlichen durch den Garten, und der Wind warf welke Blätter und Hände voll Regen gegen die Glasscheibe der Verandatür.
»Jetzt!«, sagte Christophers Mutter. »Jetzt muss es gleich kommen!«
Er wandte seinen Blick wieder dem Fernseher zu. Wovon sprach sie?
Die Bilder hinter dem Nachrichtensprecher wechselten –
»Da ist er!«, flüsterte Christophers Mutter. Ja, und da war er: Arne. Er war auf einem leicht unscharfen Foto zwischen zwei anderen Jungen seines Alters zu sehen, die kleiner und ängstlicher wirkten als er. Auch die anderen hatten zerzaustes Haar und beginnende Bärte. Ihre Augen blickten stumpf, und Christopher erinnerte sich daran, dass Arne gesagt hatte, es ginge den beiden anderen nicht gut. Arne aber lächelte – lächelte in die Kamera, als hätte er tatsächlich jemanden darum gebeten, dieses Foto von ihm zu machen. Sein Lächeln war ein Gruß nach Hause. Er hatte gewusst, dass sie das Bild sehen würden.
Der Nachrichtensprecher erklärte, das Foto wäre vor einer halben
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