Drachenauge
können Sie lange warten«, entgegnete Chalkin, verbeugte sich spöttisch vor Paulin und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle.
»Was machen wir nur mit ihm?«, fragte Bridgely.
»Denn so sicher, wie die Nacht auf den Tag folgt, wird er angerannt kommen und mich und Franco um Unterstützung bitten.«
»Für solche Fälle enthält die Verfassung bestimmte
Regeln«, erklärte Paulin.
Jamson aus dem Hochland glotzte Paulin mit großen,
verblüfften Augen an.
»Die nur derjenige befolgt, der sie anerkennt …«, er-gänzte Bastom.
»Oh, Chalkin legt großen Wert auf die Satzungen, die unsere Vorväter in der Gründungsurkunde festgelegt
haben«, meinte Paulin sarkastisch. »Denn das Privileg, das ihm den Titel ›Burgherr‹ zuerkennt und ihm Rechte über gewisse Besitzungen einräumt, ist in der Charta verankert. Wenn es darum ging, seine autonome Stellung zu sichern, hat er sich schon mehrmals auf die Verfassung berufen. Ich frage mich nur, ob er den Passus auswendig kennt, der die Strafe für einen säumigen Burgherrn festsetzt, der sich weigert, Vorkehrungen gegen den Fädenfall zu treffen. Diese lasche Handhabung stellt einen ernsten Vertrauensbruch dar …«
»Wer hätte Chalkin je vertraut?«, warf G'don ein.
»Es handelt sich um eine schwerwiegende Verletzung
der Treuepflicht, die der Burgherr seinen Pächtern für deren Dienste schuldet.«
»Hah!«, schnaubte Bridgely. »Von seinen Pächtern
habe ich auch keine hohe Meinung. Die meisten sind
Nichtsnutze und Tagediebe, die aus anderen Burgen
verstoßen wurden, weil sie entweder zu schlampig
oder zu faul waren, um ihren Verpflichtungen korrekt nachzukommen.«
»Die Verwaltung von Bitra lässt sehr zu wünschen
übrig. Fast immer müssen wir gut die Hälfte der Zehnt-49
Zahlungen zurückbringen«, erzählte M'shall. »Das Ge-treide ist verschimmelt, das Holz nicht abgelagert, die Häute sind mangelhaft gegerbt und mitunter angefault.
Jedes Quartal geht der Kampf von neuem los, Chalkin halbwegs brauchbare Waren abzuringen.«
»Ach, wirklich?«, horchte Paulin auf und machte sich Notizen. »Ich wusste gar nicht, dass er euch um die Zehntzahlungen prellt.«
M'shall zuckte die Achseln. »Das können Sie auch nicht wissen. Mit dem Problem müssen wir fertig werden. Aber wir lassen nicht locker. Und bei der Geschichte mit den Fä-
den sollten wir ihm so lange zusetzen, bis er den Ernst der Lage begreift. Es geht nicht, dass er sich vor den dringend erforderlichen Vorkehrungen drückt. Man bedenke die Folgen für die Menschen. Denn nicht jeder Pächter in Bitra ist ein Faulpelz und Tunichtgut, Bridgely.«
Bridgely schnitt eine Grimasse. »Sicher, schwarze
Schafe gibt es überall. Aber ich fürchte mich schon vor dem kommenden Frühjahr, wenn die Fäden fallen. Für
meinen Geschmack liegt Bitra nämlich viel zu nah an Benden.«
»Und welche Strafe hätte Chalkin für sein Handeln
zu erwarten – oder besser gesagt für sein Nichthan—
deln?«, erkundigte sich Franco.
»Man kann ihm seinen Titel aberkennen«, erwiderte
Paulin kurz und bündig.
»Seinen Titel aberkennen!«, wiederholte Jamson entgeistert. »Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas möglich ist.«
»Artikel Vierzehn, Jamson«, erklärte Paulin. »Pflichtversäumnisse seitens des Burgherrn. Können Sie mir
eine Kopie davon geben, Clisser? Vielleicht sollten wir alle unser Gedächtnis ein wenig auffrischen.«
»Aber sicher.« Der Direktor des Kollegiums schrieb
sich eine Notiz auf. »Morgen erhalten Sie eine.«
»Funktioniert Ihr System noch immer?«, wollte Tashvi wissen.
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»Mein Vorgänger ließ wichtige offizielle Dokumente
massenhaft kopieren«, antwortete Clisser schmunzelnd. »Sie brauchen mir nur zu sagen, was Sie wünschen, und Sie bekommen eine Kopie. Handgeschrie—
ben, aber leserlich.«
Paulin räusperte sich und bat um allgemeine Aufmerksamkeit. »Wie ist es, werte Anwesende, sollen wir gegen Chalkin vorgehen?«
»Wir haben seine Meinung gehört. Ich finde, uns
bleibt gar nichts anderes übrig, als Zwangsmaßnahmen zu ergreifen.« Erwartungsvoll blickte M'shall in die Runde.
»Nicht so hastig«, beschwichtigte Jamson. »Zuerst
möchte ich unwiderlegbare Beweise für seine Un—
tauglichkeit als Burgherr haben, sowie stichhaltige In-dizien, dass er den drohenden Notfall völlig ignoriert.
Die Aberkennung eines Titels ist ein sehr drastischer Schritt.«
»Gewiss, und Chalkin wird alles in seiner Macht stehende unternehmen, um dem zu
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