Drachenblut
Teilchen oder als Welle in Erscheinung treten, das schloss sich keinesfalls aus. Warum also sollte diese Dualität nicht auch auf die Kunst zutreffen? Für Arthur war die Kunst eine völlig natürliche Sache. Auch Licht war eine natürliche physikalische Erscheinung, was keinesfalls durch die Erfindung von künstlichem Licht - Kunst licht? - widerlegt wurde. Der Mensch machte sich eben die Naturgesetze zueigen, um Licht zu erzeugen, genauso wie sich der Künstler der Wellen und Partikel bediente, um Kunst zu schaffen. Damit schloss sich der Kreis, und Arthur setzte seinen Federhalter wieder auf das Blatt, um die Essenz seiner Gedanken festzuhalten.
AM ANFANG WAR NICHT DAS WORT - AM ANFANG WAR DAS LICHT!
Das war schön gesagt, nützte ihm aber in der Praxis wenig. Der grauen Theorie überdrüssig geworden, wollte Arthur endlich ein Kunstwerk schaffen. Erst das vollendete Kunstwerk war der endgültige Beweis für die Richtigkeit seiner Gedanken. Aber das Blatt Papier blieb ebenso leer wie sein Kopf, dem es nicht gelingen wollte, Partikel oder Wellen auszusenden. Arthurs Nasenflügel bebten, die Adern an seiner Stirn schwollen an und hätten einem heimlichen Beobachter signalisiert, dass es nun mit seiner Geduld am Ende war.
Zornig sprang Arthur auf, grabschte nach dem Schreibpapier und knetete es solange in seinen beiden Händen, bis eine unförmige Papierkugel entstanden war, die er, in höchstem Maße über sein Versagen als Schriftsteller verärgert, von sich warf. Arthur beobachtete, wie das Papierknäuel scheinbar in Zeitlupe quer durch das Zimmer flog. In diesem Moment wurde ihm bewusst, was er da getan hatte. Jawohl, er hatte tatsächlich gestaltet, hatte wahre Kunst geschaffen.
Triumphierend stieß Arthur die Faust in die Luft, während der Papierkorb in der Ecke sein Maul aufsperrte und das Kunstwerk gierig verschlang. Schnell sprang Arthur auf und fischte das wertvolle Stück aus dem Papierkorb. Ehrfürchtig inspizierte er das Wunderwerk, das er unfreiwillig geschaffen hatte und das doch all jenes symbolisierte, das zu formulieren und auszudrücken er bemüht gewesen war. Glücklich steckte Arthur das Papierknäuel in die Tasche seines Mantels, damit er es jederzeit bei sich hätte und sich daran erfreuen könnte.
41
In der Gemeinde herrschte große Aufregung. Der Pfarrer hatte schon seit längerem eine Überraschung angekündigt, die er jetzt endlich im nächsten Gottesdienst präsentieren wollte. Natürlich gab es die üblichen Skeptiker, die der Sache keinen rechten Glauben schenken wollten. Sie waren schon deshalb misstrauisch, weil sie noch heute auf die Offenbarung warteten, die ihnen seit vielen Jahren in regelmäßigen Abständen versprochen wurde. Aber am nächsten Sonntag war es dann tatsächlich soweit. Am Eingang der Kirche wurden die Gläubigen von zwei asiatischen Kindern begrüßt, die der Pfarrer als die neuen Messdiener vorstellte. Da war das allgemeine Erstaunen groß, zumal man die Kinder auch schon im Fernsehen zu sehen bekommen hatte, wo sie in einer großen Unterhaltungsshow aufgetreten waren. Der Besuch der Kinder in der Kirchengemeinde war durch die freundliche Unterstützung einer bekannten Brauerei möglich geworden, deren Namen in diesem Zusammenhang natürlich nicht unerwähnt blieb.
»Oh, wie süß!« Eine ältere Dame blieb stehen und stieß ihrer Freundin entzückt den Ellenbogen in die Rippen. »Schau einmal her, Edna, wie lieb die beiden Knirpse doch aussehen.«
Das fand Edna auch. Sie war zu Tränen gerührt, und ihre Begeisterung wäre bestimmt noch größer gewesen, wenn sie nicht gegen die Schmerzen hätte ankämpfen müssen, deren Ursache die plötzliche Reizung ihrer Gürtelrose war. »Ich gehe schon einmal hinein«, hauchte Edna mit verklärtem Blick und wankte in gebückter Haltung auf die nächste Kirchenbank zu, wo sie sich zu einem stillen Gebet niederließ, noch bevor der Gottesdienst offiziell angefangen hatte.
Die beiden Kinder standen artig am Eingang zur Kirche herum, fassten sich an den Händen und senkten schüchtern die Köpfe zu Boden. Das war ein schönes Bild. Selbst die ganz hartgesottenen unter den Gläubigen ließ das nicht unberührt. Überhaupt waren die Kinder sehr wohlerzogen, sie tuschelten nicht während der Predigt, sie rührten sich nicht von der Stelle und taten nichts, was den geordneten Ablauf des Gottesdienstes gestört hätte. Es hatte sich hinter vorgehaltener Hand sehr
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