Drachenblut
Leib und Seele hineintauchen und für immer in der Erinnerung an diesen Augenblick gefangen sein.
Die Augen Gottes funkelten, es war der Glanz der Tränen, mit denen das Schicksal des kleinen Mädchens besiegelt wurde. Für das Mädchen aber war es der Widerschein von Abertausenden von Sternen, die sich in den Pupillen reflektierten und die nach ihr riefen. Dieser Versuchung konnte das kleine Mädchen nicht länger widerstehen. Sie küsste Gott auf den Mund, ihr Sein wurde eins miteinander, und als sich ihre Zungenspitzen berührten, wusste das Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben um die Macht der Schlange, die alle Wissenden unbarmherzig aus dem Paradies vertrieb. Ein Schauder durchlief ihren Körper, und dann trat sie durch das Tor zu den Sternen. Ein Strudel ergriff das Mädchen, sie wirbelte herum und raste mit Lichtgeschwindigkeit durch die Dunkelheit des Alls, von dem sie geradezu aufgesogen und absorbiert wurde. Zeit und Raum verloren ihre Bedeutung, waren keine erfassbare Realität mehr, mit der sie das Wesen ihrer Existenz bestimmen konnte. Dann leuchtete über ihr die Sonne auf. Sie war heller als je zuvor, und das kleine Mädchen ahnte, dass dies das Ende ihrer Reise war. Ein letztes Mal schaute sie hinab auf die Erde, die unter ihren Füßen immer kleiner und unbedeutender wurde. Das Mädchen winkte mit ihren Zehen dem fernen Planeten zu und nahm Abschied von einer Welt, für die sie nicht geschaffen war. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und einen Sekundenbruchteil später war ihr ganzes Leben nur noch eine flüchtige Erinnerung an einen fiebrigen Traum, der ihr mehr bedeutete, als sie sich jemals eingestanden hätte.
Die Hitze der Sonne wurde immer unerträglicher. Ihr Sommerkleid fing Feuer und brannte ihr vom Leib. Das Mädchen versuchte instinktiv, ihren nackten Körper zu schützen. Sie krümmte sich zusammen und glich dabei einem Embryo, der auf seiner kosmischen Reise in einer glühenden Fruchtblase aus Licht und Energie seiner Bestimmung entgegenraste. In diesen letzten Augenblicken war das Mädchen selbst zu dem Kind geworden, das zu gebären sie sich einst gewünscht hatte. Ihr Herz wurde zum Edelstein, geheimnisvoll funkelnd, grün wie ein Smaragd, azur, rot wie Blut, ein ständig in sich wechselndes Meer von Farben, hell, kristallen, rein - ein Geschenk an alle Menschen, die sie einst geliebt hatten. Das Bewusstsein des Mädchens konzentrierte sich auf einen unendlich kleinen Punkt in sich selbst. Ihr Denken und Fühlen verdichtete sich zu einer in sich geschlossenen Einheit aus Geist und Materie, die den Funken des Lebens in sich barg. Höher und höher stieg sie hinauf, und als sie ihre Hand nach der Sonne ausstreckte, war die Hitze zu groß. Der Körper des kleinen Mädchens schmolz wie Wachs dahin, entzündete sich und verglühte einer Sternschnuppe gleich in den Weiten des Alls zu Staub.
40
Sorgsam legte sich Arthur einen Füllfederhalter zurecht und strich das weiße Papier glatt, auf dem er sich artikulieren wollte.
Am Anfang war das Wort.
Das hörte sich in der Theorie nicht schlecht an, war aber in der Praxis schwerer durchzuführen, als sich Arthur gedacht hatte. Welche Worte sollte er wählen, wie einen Anfang machen, wie einen Gedanken in das Korsett der Grammatik und der Interpunktion zwingen? Diese Probleme hatte er bisher nicht gekannt, bei der Gestaltung seiner Kunstwerke hatte er bisher natürlich alle Zwänge abgelehnt, die seine Kreativität beschnitten und die ihm irgendwelche Kritiker, Kunstprofessoren und auch das Publikum selbst aufdrängen wollten. Jetzt aber war es erforderlich, dass er sich dem Diktat der Rechtschreibung und des Satzbaus beugte. Konnte er das vollbringen? Arthur musste seinen eigenen, bisher von ihm als die einzige Wahrheit angesehenen Prinzipien untreu werden, wonach Kunst stets spontan und ungeplant zu entstehen hatte. Als angehendes Mitglied der schreibenden Zunft durfte er aber nichts dem Zufall überlassen. Es bedurfte strenger Disziplin, um mit dem Wort umzugehen. Jeder Buchstabe, jedes Satzzeichen hatte seine Bedeutung, da hieß es wohl zu überlegen, bevor man zur Tat schritt und seine Vorstellungen auf dem Papier fixierte. Arthur riss sich zusammen und brachte seine Gedanken auf den Punkt zurück. Es war an der Zeit, dass er sich der Muße hingab, vielleicht sollte er doch einmal versuchen, seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.
Arthur war Künstler, daher schnitt er sich zur
Weitere Kostenlose Bücher