Drachenblut
schnell herumgesprochen, dass die Kinder Vollwaisen waren und ihre Eltern bei einem Eisenbahnunglück in der Mongolei verloren hatten. Einige Gläubige zweifelten diese Geschichte an, sie hatten gehört, die Kinder wären die einzigen Überlebenden des Vulkanausbruches in der Karibik, von dem neulich in der Zeitung zu lesen gewesen war. Auf jeden Fall hatte jeder Mitleid mit den Kleinen, die mit ihren traurigen Augen die Herzen der Kirchgänger im Sturm eroberten. Es war nicht selten, dass die älteren Damen den Kindern eine Tafel Schokolade oder einen Lutscher zusteckten, und niemand bemerkte, dass es sich bei den beiden Kindern nur um einen Automaten handelte, der die Aufgabe hatte, nach dem Kirchgang die Kollekte einzusammeln.
Der Geldeinwurf befand sich an der Vorderseite der Maschine. Eine Elektronik sorgte dafür, dass die Münzen sogleich nach Gewicht und Größe bestimmt wurden. Wenn der Automat eine Münze von »geringem Wert« (diese Definition oblag dem Pfarrer, der hier seine eigenen Vorstellungen hatte) oder gar einen Hosenknopf erkannte, fingen die beiden Kinder entsetzlich an zu husten und spien die unverträgliche Dreingabe wieder aus. Es war nicht verwunderlich, dass sich kein Gläubiger der Peinlichkeit aussetzen wollte, die beiden Kinder um ihr Wohlbefinden zu bringen. Entsprechend großzügig fielen die Spenden aus.
Niemand kam auf die Idee, dass er in seinem Verhalten manipuliert, in seinem Denken und Fühlen beeinflusst wurde. Ein Roboter verkleidet als Häufchen Elend - das war schon beinahe genial! Was brauchte man modernste Roboter, die dem Menschen in Gestalt und Verhalten wie aus dem Gesicht geschnitten waren? Warum investierte man viele Millionen in die Entwicklung künstlicher Intelligenzen, wenn doch zur Täuschung des Menschen die einfachsten Konstruktionen genügten? Die Effektivität der Automaten stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Komplexität. Diese Maschinen mussten den Menschen nicht länger möglichst perfekt imitieren. Ihre Konzeption war rein und simpel, reduziert auf eine Signalwirkung, die beim Betrachter die gewünschten Reaktionen auslöste. Jeder verschloss beim Anblick der Kinder seine Augen vor der Wirklichkeit. Niemand wollte die Wahrheit sehen, vielleicht weil er ein schlechtes Gewissen hatte, vielleicht weil ohnehin nie jemand genau hinsah, wenn er mit Not und Elend konfrontiert wurde. Es gab nicht wenige, die noch Jahre später, als solche Automaten längst zum Alltag gehörten, darauf beharrten, dass die beiden Kinder aus Fleisch und Blut gewesen seien.
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Myriaden von kleinsten Partikeln trieben im unendlichen Raum dahin. Nach den Gesetzen der Gravitation (vgl. Das große Lehrbuch der Physik, S. 173) hatten die Teilchen das Bestreben, sich untereinander zu komplexen Einheiten zu verbinden, und mit der Zeit entstanden aus dem Chaos der Elemente feste Strukturen, die in der Lage waren, Informationen zu verarbeiten. Diese Fähigkeit zur Kommunikation machte aus den Partikeln einen zusammenhängenden physikalischen Organismus, der sich in der Schwerelosigkeit des Raumes materialisierte.
Noch war sich Virgil nicht klar, dass er es war, der sich wieder seiner Existenz bewusst wurde. Da war zuerst nur ein Gedanke, eine zögerliche, noch unbeholfene Reflexion des eigenen Seins. Dann fühlte sich Virgil wie von Glückstropfen umspült, die er nach der langen Zeit der Finsternis wie ein Schwamm in sich aufsog. Das Gefühl der Körperlichkeit war überwältigend. In jeder Pore seines Körpers setzten sich die Tropfen fest. Sie durchdrangen seine Gedanken und Empfindungen und isolierten ihn im Styx.x als sensibles Wesen, das sich aus dem Nichts erhob und seine Wiedergeburt als Rausch der Sinne erlebte. Fühlen und Denken waren Poesie - ein Lied, ein Gedicht, eine zärtliche Umarmung, Friede mit sich selbst, bar jeder Lasten oder der Furcht, die sich aus der Erkenntnis um die grundsätzliche Vergänglichkeit dieses Zustandes ergeben konnte.
Ein sanftes Flüstern drang an Virgils Ohren. Es war der süßeste Chor, den er jemals gehört hatte. Die Stimmen riefen nach ihm, wollten es nicht dulden, dass er sich aus ihrer Mitte entfernte, und sie konnten dabei ihre Eifersucht kaum verbergen. In Virgil erlahmte der Wille, sich aus dem Datenstrom zu lösen. Konnte es so schrecklich sein, auf ewig im Styx.x dahin zu treiben? Das Gefühl der Geborgenheit, des Einsseins mit allem, was war, erschien weitaus erstrebenswerter als das Wissen um
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