Drachenblut
verließ dann mit festem Schritt das Tal.
Ohne seine VR-Ausrüstung war es Virgil unmöglich, aus dem System zu entkommen. Der Kontakt zur Außenwelt konnte nur hergestellt werden, wenn er sich direkt an eine Schnittstelle begab, an der die Menschen mit dem Computer kommunizierten. Daher folgte Virgil einem Kabel, welches der Stromversorgung des Systems diente. Aus Erfahrung wusste er, dass sich am Ende eines solchen Kabels mit großer Wahrscheinlichkeit ein Netzteil befand, an dem auch andere Verbraucher angeschlossen waren. Das machte diesen Bereich des Rechners besonders interessant.
Nach kurzer Zeit erreichte Virgil eine seltsam anmutende Ansammlung von elektronischen Bauteilen, die sich durch ihr Aussehen von den anderen Komponenten des Systems unterschieden. Die Anschlüsse waren unsauber verlötet, die Steckverbindungen saßen schlecht in ihren Buchsen, und der Aufbau machte insgesamt einen sehr verwegenen Eindruck, als wäre er das Handwerk eines Idealisten und nicht eines ausgebildeten Technikers. Über der Konstruktion waren zwei einander zugewandte Winkelbleche montiert, die eine Art Torbogen bildeten, an dem eine von bunten Glühbirnen umrahmte Tafel hing: WeLCOMe TO PLeASURe ISLAND.
Anhand der verschiedenen Bauteile konnte Virgil die Konfiguration schließlich als Videospiel identifizieren. Auf keinen Fall war das Spiel in dieser Form industriell hergestellt worden, und das war für Virgil Anreiz genug, sich die Sache einmal näher anzusehen.
Neugierig durchschritt Virgil das Eingangstor, und er fand sich in einer Grafikkarte wieder, in welcher der überwältigendste Urwald wuchs, den man sich vorstellen konnte. Die Darstellung der Pflanzen und Tiere war auf dem neuesten Stand der Technik und perfekt bis in das letzte Detail. Mit ein wenig Einbildung konnte Virgil sogar den süßen Duft der Orchideen riechen, die es sich zwischen den Wurzeln der uralten Bäume bequem gemacht hatten. Es war ihm bei aller Unberührtheit der Natur, als befände er sich im Garten Eden. Virgil ertappte sich bei dem unsinnigen Gedanken, dass er sich lediglich nach einem Apfelbaum umsehen und von dessen Früchten naschen müsste, damit er aus dem System vertrieben würde und wieder in die richtige Welt zurückkehren könnte.
Ein Apfelbaum war freilich weit und breit nicht auszumachen. Virgil war Realist genug, um zu erkennen, dass der Ausstieg aus dem System ohnehin technischer und nicht religiöser Natur sein musste. Diese Überzeugung beruhte auf der Gewissheit, sich in einer elektronischen Einheit zu befinden, einer von menschlicher Hand geschaffenen Maschine, die mit dem nötigen Fachwissen auch ohne ein Wunder zu kontrollieren und zu beherrschen war.
Virgil arbeitete sich mit beiden Händen durch den Dschungel hindurch. Er hatte keine Ahnung mehr, wo er sich befand. Überall reichten die Bäume bis in den Himmel, und die Schlingpflanzen schienen sich darauf spezialisiert zu haben, nach seinen Beinen zu greifen und ihn zu Fall zu bringen. Endlich lichtete sich das Gestrüpp. Der Urwald teilte sich, und Virgil sah sich einer mehrspurigen Autobahn gegenüber, die wie ein steriles Asphaltband die Vegetation durchschnitt. Irgendwelche Fahrzeuge waren weit und breit nicht zu sehen, die Straße wirkte wie ausgestorben. Wahrscheinlich war sie noch nicht in Betrieb genommen, weil auch die modernen Anzeigetafeln weder Geschwindigkeitsbeschränkungen noch andere Hinweise anzeigten.
PLAYER: 0 SCORE: 0 pts. LIVES LEFT: 0, mehr war auf den Tafeln nicht zu lesen. Jenseits der Autobahn setzte sich der Urwald fort, wenngleich er dort weniger undurchdringlich erschien. Natürlich hätte es sich angeboten, nach links oder rechts entlang der Fahrbahn zu gehen, bis er auf eine bewohnte Gegend stieß. Aber das Gefühl sagte Virgil, dass es vielleicht ratsamer war, die offene Straße zu meiden, bis er genau wusste, in welchem Spiel er sich befand.
Virgil schwang sich über die Leitplanke, rannte über die Autobahn und verschwand wieder im Dschungel. Er war nur wenige Meter gegangen, als er das Geräusch von Schüssen hörte, das in den Wipfeln der Bäume verhallte. Das dumpfe Donnergrollen mochte von den Einschlägen der Granaten kommen, die den Boden erzittern ließen. Vorsichtig schlich Virgil weiter. Nach kurzer Zeit erreichte er eine Lichtung, in deren Mitte sich der Palast des Präsidenten befand. Aus allen Ecken wurde auf die hoheitliche Residenz gefeuert. Soldaten starben im
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