Drachenblut
Taschenlampe bewaffnet ging das kleine Mädchen die Treppen hoch in das Zimmer, in dem ihr Großvater wohnte. Als sie die Türe öffnete und den Raum betrat, stellte sie fest, dass sie ihre Lampe nicht brauchte. Eine nackte Glühbirne tauchte das Zimmer in ein hartes, beinahe schon anklagendes Licht. Großvater lag in einem Bett direkt unter der Glühbirne, die jede Intimität zu vertreiben schien. Seine Hände waren auf seinem Bauch um ein Kreuz gefaltet. Das waren die Hände mit denen er früher seine Zauberkunststücke vorgeführt hatte, das waren die Hände mit denen er sie berührt und ihr über das Haar gestrichen hatte. Großvaters Augen waren geschlossen, und es sah so aus, als würde er schlafen. Aber so schlief niemand, das wusste das kleine Mädchen. Der Anblick ihres Großvaters hatte nichts Beruhigendes oder Entspanntes an sich, nein, ihr Großvater lag einfach nur da auf seinem Lager.
Vorsichtig schlich das kleine Mädchen weiter, hinüber zum Regal, das prall gefüllt war mit kleinen und großen Büchern, mit dicken und dünnen Büchern, mit Büchern, die dicht gedrängt nebeneinander standen oder waghalsig übereinander gestapelt waren. Dieser Anblick war für das Mädchen eine wahre Freude, und sie überlegte sich, welches Exemplar wohl am interessantesten sein mochte.
Eines der Bücher war besonders dick. Der Umschlag war vergilbt und vom häufigen Gebrauch abgegriffen. Der Titel des Buches war nicht mehr vollständig zu lesen, immerhin konnte sie soviel erkennen, dass es um Rache ging und um Blut. Wahrscheinlich war es ein Märchenbuch, und es handelte von Rittern, die auf ihren Pferden um die Hand einer Prinzessin kämpften. Das hörte sich recht vielversprechend an, und damit hatte das Mädchen ihre Wahl getroffen. Um das Buch zu erreichen, musste sie sich kräftig strecken und auf die Zehenspitzen stehen. Dabei knarrte der Fußboden, weshalb sich das kleine Mädchen immer wieder nach ihrem Großvater umsah, den sie unter keinen Umständen auf sich aufmerksam machen wollte, weil sie nicht wusste, ob ihr das, was sie da tat, erlaubt war oder nicht.
Endlich konnte sie das Buch vorsichtig aus dem Regal ziehen. Die anderen Bücher drängten sich sofort von links und rechts in den freigewordenen Platz, und eine feine Staubwolke rieselte vom Regal. Als sie mit dem Buch unter dem Arm wieder zurück zur Tür schlich, sah sie, dass der Großvater seine Augen aufgeschlagen hatte. Das kleine Mädchen erschrak, verharrte mitten im Schritt und wartete, was weiter geschehen würde. Es geschah aber nichts weiter, ihr Großvater rührte sich nicht, gab keinen Ton von sich oder zeigte sonst auf eine Art, dass er des kleinen Mädchens gewahr geworden war. Er starrte einfach geradeaus in das grelle Licht der Glühbirne und schien sich an deren Helligkeit nicht zu stören. Es dauerte lange Zeit, bis das kleine Mädchen begriff, dass ihr Großvater gestorben und für immer von ihr gegangen war, diese Augen würden sich nie wieder schließen.
Das kleine Mädchen hatte noch nie in ihrem Leben jemanden sterben sehen. Sie hatte immer geglaubt, im Augenblick des Todes würden Geheimnisse gelüftet, die man sonst nicht erfuhr, würde ein Teil jener Wahrheit erahnbar werden, der man nur im Moment des Sterbens näher kommen konnte. Wo waren die Engel, die einen hinauf in den Himmel begleiteten, die einen trösteten und in das Paradies führten? Wo war das Gefühl von Verlust, von Schmerz und Traurigkeit, das sich der Herzen der Hinterbliebenen bemächtigen sollte? Nichts von alledem. Im Hause war es still, so still, als wäre nichts geschehen, als hätte sich der Tod leise durch eine Hintertüre hereingeschlichen, wie ein Dieb, der einen nicht kümmerte, solange er nur andere bestahl.
Obwohl sie ganz nahe dabei gewesen war, als der Großvater gestorben war, hatte das kleine Mädchen den Tod selbst nicht gesehen, blieb ihr das Sterben ein Mysterium. Und wie sie noch versuchte, festzuhalten, was nicht festzuhalten war, wie sie zu begreifen versuchte, was sie nicht begreifen konnte, da verloren die Augen ihres Großvaters von ihrem natürlichen Schimmer und wurden immer glasiger. Es waren aber diese Augen, die das kleine Mädchen faszinierten und neugierig machten. Vorsichtig wischte sie die Haare aus dem Gesicht und beugte sich über ihren Großvater, um ihn genau anzusehen. Vielleicht konnte sie in diesen Augen erkennen, wo er sich gerade in Wirklichkeit befand, vielleicht konnte man in
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