Drachenblut
das Meer keinesfalls wie erwartet unangenehm kalt war. Womöglich schlummerte tief im Felsen ein unterirdischer Vulkan, der das Wasser erwärmte. Das Mädchen wurde aber nicht nur mit ihren Gedanken hinaus auf das Meer gezogen, sondern verspürte den Wunsch, auch mit dem Körper in das Element zu tauchen, aus dem einst alles Leben entsprungen war. Sie klemmte die Taschenlampe zwischen zwei Felsbrocken und legte ihre Kleidung ab. Dann ließ sich ins Wasser gleiten und schwamm mit ruhigen Zügen hinaus in die Weite des unterirdischen Meeres. In diesem Moment konnte sich das Mädchen nichts Schöneres vorstellen, als auf ewig im Wasser zu treiben, schwerelos und bar jeder Lasten, die sie in ihrem Leben zu tragen hatte. Ein leichter Nebelschleier lag über dem Meer. Hin und wieder huschte dort, wo die Taschenlampe über das Meer leuchtete, ein Schatten durch die Luft, tauchte lautlos in die Nebelschwaden über dem Wasser hinab und verschwand wieder, bevor das kleine Mädchen sehen konnte, ob es wirklich Fledermäuse auf der Jagd nach Insekten waren.
So vergaß das kleine Mädchen die Zeit, und sie fühlte sich geborgen im Bauch des Drachens, in dem sie ja eigentlich war. Sie schloss ihre Augen, holte Luft und tauchte hinab in die Tiefe, spürte das Wasser auf ihrer Haut und tauchte dann wieder auf, um die Lungen erneut mit frischer Luft zu füllen. Als sie ihren Kopf aus dem Wasser stieß, bemerkte sie in einiger Entfernung eine undeutliche Bewegung. Das Mädchen wischte sich schnell das Wasser aus dem Gesicht, um klarer sehen zu können, und wirklich, es war ein weißer Schwan, der aus den Nebelschwaden auftauchte und majestätisch über das Wasser glitt. Den Kopf hatte er stolz erhoben, die Augen glitzerten wie zwei schwarze Perlen, und das Federkleid erstrahlte in einem unwirklichen Glanz, der ihm eine geheimnisvolle Aura verlieh. Das kleine Mädchen hatte noch nie in ihrem Leben etwas derart Schönes und gleichzeitig Würdevolles gesehen. Sie verlangsamte ihre Schwimmbewegungen, um das Tier nicht zu erschrecken. Beide beobachteten sich aus einiger Entfernung, wobei der Schwan hin und wieder seinen Hals auf den Rücken drehte, mit dem Schnabel durch sein Gefieder fuhr und damit Desinteresse an dem kleinen Mädchen vortäuschte, was aber nicht stimmte, weil er immer wieder beiläufig in ihre Richtung schielte, um zu sehen, wie sie sich verhalten würde.
Das war gewiss kein gewöhnlicher Schwan, dachte das kleine Mädchen. Kein Schwan konnte in dieser unterirdischen Welt überleben, einer Welt, die niemals das Licht der Sonne oder das Funkeln der Sterne gekannt hatte. Und wie sich das kleine Mädchen und der Schwan langsam näher kamen und einander respektvoll umkreisten, verloren sie die anfängliche Scheu voreinander. Der Schwan senkte sein Haupt und signalisierte dem kleinen Mädchen damit, dass er ihr vertraute. Das Mädchen überlegte ob sie es gar wagen dürfte das stolze Tier zu berühren. Mit zaghaften Bewegungen schwamm sie auf den Schwan zu und streckte behutsam ihre Hand nach dem Tier aus.
Plötzlich flackerte die Taschenlampe am Ufer auf, und die Finsternis der Höhle rückte ein Stück näher an das kleine Mädchen heran. Erschrocken zuckte das kleine Mädchen zusammen und zog ihre Hand zurück. Sie wusste, dass sie ohne das Licht der Taschenlampe niemals wieder den Weg hinaus finden würde. Sie war dem Schwan so nahe gewesen und hatte ihn beinahe mit den Fingerspitzen berühren können, aber jetzt war jede Sekunde kostbar. Schnell machte sie kehrt und schwamm schweren Herzens zurück zum Ufer, wo das Licht der Lampe immer schwächer wurde.
Der Schwan erschrak über die heftige Reaktion des Mädchens. Aufgeregt flatterte er mit den Flügeln, es gelang ihm jedoch nicht, sich vom Wasser zu erheben und ihr zu folgen. Er reckte den Hals in die Höhe, schrie dem Mädchen flehend nach, und dann schwamm er davon, hinaus in das unterirdische Meer, zurück in die Dunkelheit, aus der er gekommen war.
Als das kleine Mädchen wieder festen Boden berührte, hetzte sie aus dem Wasser, raffte mit einer Hand ihr Kleid und ihre Schuhe zusammen, ergriff mit der anderen Hand die Taschenlampe und rannte dann, so schnell es ging, zurück zum Eingang des Höhlenganges, der hinauf zum Drachenfelsen führte. Im fahlen Schein der Taschenlampe hastete sie über die scharfkantigen Steinbrocken und Felsen hinweg, stieß sich dabei ihre Knie auf, zerschnitt sich ihre Hände, aber darauf nahm sie
Weitere Kostenlose Bücher