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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lee Parks
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Schaufensterpuppen gehört und waren in den verschiedensten Positionen erstarrt. Es gab eine Hand, die zur Faust geballt war, und da war eine Hand, deren Finger abgebrochen waren. Daneben lag eine Hand, die nach einem imaginären Objekt griff, und es gab eine Hand, die mit dem Zeigefinger direkt auf das kleine Mädchen zeigte, die daraufhin einen Schritt vom Schaufenster zurückwich. Von ihrer Freundin aber war keine Spur zu sehen.
        Davon enttäuscht, dass es ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnte, setzte das kleine Mädchen seinen Weg fort und bog um die nächste Straßenecke. Sie war nur wenige Schritte gegangen, als sie das Inventar des Schaufensters entdeckte, das dort an der Ladenrückwand bis zum Abtransport durch die Müllabfuhr zu einem Haufen aufgeschichtet worden war. Und hier fand das kleine Mädchen auch seine Freundin wieder. Sie lag mit einer Gesichtshälfte in einer Pfütze, und die trüben Augen der Schaufensterpuppe starrten ausdruckslos auf den Asphalt. Einer ihrer Arme war auf den Rücken gebogen, der andere Arm war unnatürlich verrenkt und stand seitlich vom Körper ab. Der Schädel ihrer Freundin war eingeschlagen. An ihrem Hinterkopf klaffte ein großes Loch von der Größe einer Faust, einer Faust, wie sie im Schaufenster zurückgeblieben war.
        Das kleine Mädchen kniete nieder, um die Schaufensterpuppe zu berühren. Wie fremd sie jetzt wirkte, wo sie hier auf der Straße lag, weggeworfen und von niemandem mehr beachtet, dachte das kleine Mädchen. Es war das erste Mal, dass sie von ihrer Freundin nicht durch eine Scheibe getrennt war. Und doch schien es, als wäre auf einem Mal eine Barriere zwischen ihnen, eine Barriere, die stärker war als Glas. Als das kleine Mädchen die Puppe mit der Hand berührte, fühlte sich die Haut kalt an. Alles Leben schien aus ihrer Freundin gewichen zu sein, zurück blieb eine verbrauchte, leblose Hülle, die nichts Würdevolles mehr an sich hatte. Das war das Ende einer langen Freundschaft, ohne dass das kleine Mädchen oder seine Freundin etwas dafür konnten, und das war es auch, was das Mädchen so traurig stimmte.
        Wie das kleine Mädchen in Gedanken versunken bei seiner Freundin saß, innerlich Abschied nahm und schon vergessen hatte, dass sie eigentlich zum Drachenfelsen wollte, beobachtete sie, wie sich am Hinterkopf der Schaufensterpuppe etwas bewegte. Winzige Nachtfalter krabbelten aus dem Loch im Schädel hervor, verharrten erschöpft und breiteten dann ihre zarten Flügel aus, um sich in den nächtlichen Himmel zu erheben. Unzählige Insektenkokons befanden sich noch im Kopfe der Freundin, aber die Zeit war gekommen, an der alle diese Geschöpfe ihren Fesseln entschlüpfen und ihren bisherigen erdgebundenen Existenzen in einer neuen, höher entwickelten Form entfliehen würden.
        Erstaunt verfolgte das kleine Mädchen den Abflug der Falter. Sie flatterten zunächst ein wenig unbeholfen hin und her und waren sicherlich aufgeregt über die Fähigkeit, fliegen zu können. Dann stiegen sie weiter und weiter in die Höhe, wo sie unweigerlich vom Lichte der Straßenlaterne angezogen wurden, obwohl sie doch die unbegrenzte Freiheit hatten, dahin zu fliegen, wo sie nur mochten. Aber es gab keine Abwehr gegen die Macht des Lichtes. So schwirrten die Nachtfalter um die Straßenlaterne und berauschten sich an der Helligkeit und der Wärme, bis einer nach dem anderen dem Licht zu nahe kam und verbrannte, kaum dass er die Freiheit gewonnen hatte.
        Wie das kleine Mädchen die Nachtfalter zu Boden stürzen sah, rannte es weg und hielt nicht eher an, bis es die Stadt weit hinter sich gelassen hatte.
        Es dauerte eine Weile, bis sich das Mädchen wieder beruhigt hatte. Sie wusste noch nicht einmal, wovor sie eigentlich davongelaufen war, und sie besann sich wieder ihres eigentlichen Zieles, nämlich den Drachenfelsen zu erforschen. Sie setzte ihren Weg fort, nur hin und wieder mit der Taschenlampe auf den Boden leuchtend, wenn sie vor sich ein Hindernis vermutete, oder ein Tier zur Seite huschte, obwohl sie nie eines zu Gesicht bekam, so schnell sie sich auch danach umsah, vielleicht weil es Kobolde waren, die sich einen Spaß daraus machten, sie zu erschrecken und auf die Probe zu stellen.
        An der Weggabelung am Rande des Waldes musste das kleine Mädchen nach Norden abzweigen. Sie wusste, dass der Polarstern in den kurzen Sommernächten genau über der Stelle stand, an der der Drachenfelsen einsam die Jahrhunderte

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