Drachenblut
keine Rücksicht, von der panischen Angst getrieben, das Licht der Lampe könnte jeden Moment völlig erlöschen und auch sie zum Gefangenen des unterirdischen Reiches machen. Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, wie sie sich durch die unwegsame Höhle zwängte. Das Licht reichte jetzt kaum noch aus, dass sie ihre eigenen Arme sehen konnte, die sie schützend vor den Körper hielt und mit denen sie sich den Weg durch die Dunkelheit zu ertasten versuchte. Immer steiler ging es aufwärts. Die Felsen waren feucht und rutschig und boten kaum Halt für ihre nackten Füße. Dann flackerte die Taschenlampe ein letztes Mal auf und erlosch endgültig. Das Stöhnen des kleinen Mädchens verhallte irgendwo in den engen Gängen, als sie mit dem Kopf gegen die Felsen stieß, die jetzt nicht mehr rechtzeitig sehen konnte.
Im Schutze der Finsternis wagten auch die Kobolde und Dämonen nach ihr zu greifen, gieriger und bösartiger als zuvor. Mit ihren scharfen Zähnen schnappten sie nach dem Mädchen, rissen ihr mit ihren langen Krallen Male in die Haut. Feine Blutfäden liefen die Stirn des kleinen Mädchens hinab und vermischten sich auf den Wangen mit ihren Tränen, die sie in ihrer Angst nicht mehr zurückhalten konnte.
Endlich verspürte das kleine Mädchen einen Luftzug, und als sie aufschaute, sah sie den Sternenhimmel über sich funkeln, und da wusste sie, dass sie in Sicherheit war. Das Mädchen taumelte zum Höhleneingang hinaus auf den Felsvorsprung und sank schwer atmend zu Boden. Alles drehte sich um sie, Schweiß und Staub brannten in ihren Wunden, und erst, als sie die Luft der Sommernacht lange und tief in sich aufgesogen hatte, beruhigte sie sich wieder. Die ängstliche Beklemmung, die in ihrer Brust gewütet hatte, löste sich und wich einem Gefühl der Stärke, das sich aus dem intensiven Erleben ihres eigenen Körpers ergab. Die Vielfalt der Gefühle war überwältigend, und das Mädchen fühlte sich wie berauscht. Das Adrenalin in ihrem Blut sensibilisierte sie nicht nur für äußerliche Sinnesreize, sondern verband sie mit ihrem eigenen Körper auf eine intensive Weise, wie das nur in besonders außergewöhnlichen Situationen der Fall ist. Das kleine Mädchen hatte inmitten dieser lustvollen Empfindungen nach den vergangenen Monaten des Zweifels und der Abkehr von ihrem eigenen Fleisch und Blut wieder zu sich selbst gefunden. Ein Körper, der ihr ein solches Gefühl vermitteln konnte, den wollte sie nie hergeben, wie immer dieser Körper auch aussehen mochte.
Das kleine Mädchen setzte sich an den Rand des Felsvorsprungs und ließ ihre Beine herabbaumeln. Sie fand jetzt Zeit, über ihre Begegnung mit dem Schwan nachzudenken, dessen ängstliche Schreie ihr noch immer in den Ohren hallten. Das Mädchen hatte den Eindruck, als hätte das Tier dort unten auf sie gewartet, und sie fühlte sich schuldig dafür, dass sie so überstürzt aus der Höhle geflüchtet war, ohne den Schwan aus seinem steinernen Gefängnis geführt zu haben. Aber warum war er ihr nicht einfach gefolgt? Vielleicht wollte der Schwan überhaupt nicht von hier fort, überlegte das kleine Mädchen, vielleicht war er hier zu Hause und hatte sein unterirdisches Reich nur gegen ihr ungebetenes Eindringen verteidigen wollen. Tausend Gedanken gingen ihr im Kopf herum, und sie schaute auf das Land hinaus, um etwas Ablenkung zu finden.
Von hier oben hatte das kleine Mädchen einen wunderschönen Ausblick über die Stadt, die jenseits des Waldes im Tal lag und die aus Tausenden von winzigen Lichtern bestand, Lichtern, die in allen Farben leuchteten, Lichtern, die blinkten und niemals stillzustehen schienen, ein ständiger Strom wie glühende Lava - die Stadt lebte! Die Stadt war zu weit weg, als dass sie den Lärm hätte hören können, der von ihr ausgehen musste. Das Hupen der Autos, das Zischen der Maschinen, das Knistern der Elektrizität und das Stimmengewirr der Menschen, all dieser Lärm verhallte im Stahl und Beton, aus denen die Stadt gebaut war. Hier oben am Drachenfelsen war das kleine Mädchen in einer anderen Welt, die mit dem Leben unten im Tal nichts gemeinsam hatte.
Über ihr spannte sich der nächtliche Himmel von Horizont zu Horizont. Die Sterne funkelten majestätisch, wie irdische Lichter niemals zu leuchten vermochten, von hier oben war die Sicht nicht durch den Dunst der Abgase eingeschränkt, der wie ein schmutziger Schleier über der Stadt hing. Der Anblick des Sternenhimmels war ein
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