Drachenblut
Fingerfarben und ging damit zum Fenster. Dort malte sie blaue, rote und grüne Punkte auf die Fensterscheibe, bis sie jede der drei Farben aufgebraucht hatte und das ganze Fenster mit bunten Punkten übersät war. Die Sonnenstrahlen durchdrangen die farbigen Punkte und projizierten im Wechsel mit den dahin ziehenden Wolken ein prächtiges Farbenspiel an die gegenüberliegende Wand des Kinderzimmers. Das Fenster war ein glühendes Transparent, das die Energie der Sonne aufzufangen und zu bündeln schien. Fasziniert betrachtete das kleine Mädchen die Muster, die über dem Bett an die Wand geworfen wurden. Die Muster bewegten sich, bildeten Figuren, tanzten miteinander hin und her und veränderten sich wieder in Farbe und Helligkeit. Bei aller scheinbaren Unregelmäßigkeit, mit der sich diese Muster an der Wand abzeichneten, erkannte sie doch weit mehr in den Farbenspielen, als ein unbedarfter Betrachter es vermocht hätte. Eine zierliche menschliche Gestalt löste sich von der Wand, trat in den Raum hinaus, und zum ersten Mal sah das Mädchen das Kind das man ihr entrissen hatte.
Ihre Tochter schwebte vor ihren Augen frei im Äther, und dieser Anblick war für das kleine Mädchen von überwältigender Schönheit. Mit dem Stolz einer Mutter betrachtete sie die weichen Formen, die für sie der Inbegriff von Unschuld und Unberührtheit waren. Gerne hätte sie ihre Tochter in die Arme genommen und nie mehr losgelassen, aber das Kind wirkte auf eine würdevolle Weise zerbrechlich, in seiner absoluten Reinheit beinahe schon unnahbar, und diesen Bann wollte das kleine Mädchen nicht brechen.
Es schien, als wollte ihre Tochter mit ihr in Kontakt treten, aber dann waren die anderen Lichtpunkte stärker, und sie wurde wieder in das Schattenreich hinter der Wand gedrängt. Auch das kleine Mädchen wollte durch die Wand hindurch in die Welt, die dahinter verborgen lag. Mit den Händen befühlte sie die Tapete, um vielleicht eine versteckte Pforte oder eine geheime Tür zu finden. Mit ihren schwachen Fäusten trommelte sie gegen die Wand, die ihr den Durchgang verwehrte und sie in ihrem kleinen Zimmer gefangen hielt. Zornig verlangte das kleine Mädchen, dass die Barriere weichen sollte und ihr den Weg freigab. Aber ihr Wunsch war vergeblich, sie konnte den Geistern nicht befehlen, die dort selbst Gefangene ihres eigenen Reichs waren.
Das kleine Mädchen kauerte sich auf dem Boden zusammen, wo sie sich in sich selbst zurückzog, die übermächtigen Mauern um sie herum ignorierte und sich ihrem Schicksal fügte. Nicht einmal der Teddybär konnte sie trösten, er saß nur regungslos auf dem Regal und starrte zur Decke, als ginge ihn alles nichts an.
Mit der Zeit verblassten die Schatten an der Wand. Das Muster der grauen Tapete trat wieder in den Vordergrund und verdrängte die bunten Farbpunkte, die schon bald kaum noch wahrzunehmen waren. Das kleine Mädchen erkannte, wie vergeblich doch ihre Bemühungen gewesen waren, und sie besann sich auf ihre wahre Stärke, die nicht in der körperlichen Überwindung irgendwelcher Hindernisse lag. Der wahre Schlüssel zur Welt lag noch immer in der Spielekiste unter ihrem Bett.
Schnell krabbelte sie wieder zurück und zog die Truhe hervor, in der sie all ihre Schätze aufbewahrte. Dort fand sie den Schlüssel, der ihr alle Türen öffnen konnte, der sie befreien und hinausführen würde in eine Welt, in der sie Königin war. Und der Weg hinaus, da war sich das kleine Mädchen ganz sicher, der führte nach innen.
Vorsichtig griff das kleine Mädchen in die Truhe und brachte das alte Buch hervor, das sie sich damals aus dem Zimmer ihres Großvaters geholt hatte. Das Buch war das einzige Andenken an ihren Großvater, das ihr geblieben war. Es war so schwer, dass sie sich gehörig anstrengen musste, um es über den Rand der Truhe heben zu können. Liebevoll strich sie mit den Händen über den vergilbten Einband des Buches, um von jenem Gefühl vorwegzunehmen, das sich ihrer bemächtigen und dem sie sich hingeben würde, mit dem sie dahin treiben und das sie forttragen würde von diesem Ort, der sie nicht länger halten konnte. Das Mädchen schlug die Seiten auf, wie sie es in der Vergangenheit schon unzählige Male getan hatte. Der Inhalt des Buches war ihr bestens vertraut, dennoch gab es bei jedem Lesen etwas Neues zu entdecken. Da gab es versunkene Kontinente zu erforschen und Feuer speiende Berge zu besteigen, da musste sie über weite Meere
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