Drachenblut
können, die Narren hätten Einzug gehalten. Im Grunde war wohl genau das auch der Fall gewesen. Es waren aber weniger die absurden Vorkommnisse, die ihn zur Weißglut brachten. Vielmehr war es die Tatsache, dass seine Anwesenheit ignoriert wurde und die Gesellschaft ihr buntes Treiben unbeirrt fortsetzte.
Nur mühsam konnte sich Hank beherrschen. Erst als ihn ein verirrter Kronkorken am Kopf traf, platzte ihm endgültig der Kragen. Mit drei Schritten war er bei Haddock, entriss ihm den Schreckschussrevolver und feuerte solange in die Luft, bis alle Patronen verschossen waren. Hank schnaubte wie ein wilder Stier und pfefferte den Revolver in weitem Bogen zum offenen Fenster hinaus. Das ferne Klirren einer Scheibe erinnerte ihn flüchtig daran, dass sein Wagen hinter dem Haus geparkt war. Der blanke Irrsinn stand ihm ins Gesicht geschrieben, und dann tat er das einzig Richtige - erschöpft setzte er sich zu seinen erstaunten Mitstreitern und grabschte nach einem leeren Glas.
»Wein!« verlangte er bestimmt und schlug wie ein kleines Kind mit dem Glas auf den Tisch. Die anderen starrten ihn verständnislos an.
»Yeah, Wein!« Stanley hatte die Situation als erster erfasst und kam bereitwillig der Aufforderung nach. Jetzt kam wenigstens Stimmung in den Laden!
Nach wenigen Minuten hatten Hank und Stanley die Flasche geleert.
»Nanu, nichts mehr da?« wunderte sich Stanley. Er hob die leere Flasche wie ein Fernrohr vor seine glasigen Augen und starrte in den Flaschenhals, um sich persönlich davon zu überzeugen.
»Ahoi, Kapitän Ahab, Land voraus!« Der letzte Tropfen Wein kullerte heraus und fiel ihm direkt auf die Pupille. Das tat weh. Angestrengt rieb sich Stanley das gereizte Auge. So was passierte aber auch immer nur ihm, ärgerte er sich. Unauffällig schielte er nach den anderen. Nur gut, dass niemand diesen peinlichen Fauxpas beobachtet hatte.
Hank schaute schnell zur Seite und tat so, als hätte er nichts bemerkt. Das war typisch Stanley, dachte er sich, das konnte auch nur ihm passieren. Manche Menschen schienen für solche Missgeschicke geradezu vorbestimmt zu sein.
Erschöpft ließ Hank seinen Kopf auf den Tisch fallen. Der Lärm, der Schmerz in seinen Gliedern und der Alkohol umnebelten seine Sinne. Er seufzte und atmete tief aus, jetzt ging es ihm besser. Die ersten Strahlen der Morgensonne bahnten sich ihren Weg durch das Fenster. Zufrieden ließ Hank die Gedanken ziehen, und er entfloh in eine bessere Welt, eine Welt, die ihm Trost und Wärme spendete.
33
Mit einem Mal warf das kleine Mädchen den Kopf zurück, atmete tief ein und sprengte die unsichtbaren Fesseln, die ihr die Brust zuschnürten und sie im düsteren Niemandsland zwischen Traum und Wirklichkeit gefangen halten wollten. Mit einem tiefen Seufzer befreite sie sich aus der Dämmerung, die wie ein Schatten über ihr gelegen hatte und sie zu ersticken drohte.
Das kleine Mädchen erwachte aus einem tiefen Schlaf. Zaghaft öffnete sie die Augen und stellte erleichtert fest, dass sie zu Hause in ihrem Bett lag. Dennoch, irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte sie sofort. Im Haus war es unnatürlich still. Es war von nirgendwo her auch nur der geringste Laut zu vernehmen, der die Anwesenheit von anderen Menschen verriet. Keine Stimmen waren zu hören, keine Dielen knarrten, keine Maschinen lärmten, und niemand klapperte mit irgendwelchen Gegenständen.
Einige Zeit lag das kleine Mädchen ratlos da. Dann beschloss sie, sich in ihrem Zimmer genauer umzusehen, vielleicht konnte sie ja den Grund der Stille entdecken. Als sie sich aufrichtete, verspürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Bauch. Es war ein Schmerz, der ihre Erinnerungen zurückbrachte und ihre Ahnung zur Gewissheit werden ließ. Fremde Männer hatten sie mit einem Gas schläfrig und wehrlos gemacht, hatten sich neugierig über sie gebeugt, in einer fremden Sprache über sie gesprochen und dabei die Köpfe geschüttelt, als gäbe es keine Hoffnung mehr. Schließlich waren sie mit blanken Klingen in ihren Körper gedrungen und hatten dort ihr Innerstes freigelegt. Zu feige waren die Männer, als dass sie ihre Gesichter gezeigt hätten. Vermummt waren sie, hinter Masken und Handschuhen verschanzt, nur eine anonyme Masse von Augen, Armen, Messern und Nadeln, die über ihren Körper verfügten. Und dann hatten die Männer den Frevel begangen, ihr Kind aus dem Bauch zu heben und von ihr zu
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