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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lee Parks
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nehmen.
        Ohne hinzusehen, legte das kleine Mädchen eine Hand auf ihren Unterleib. Dort konnte sie unter den Verbänden eine halbkreisförmige Narbe ertasten, die quer über ihren Bauch ging. Die Wunde war breiter als ihre Hand. Auch wenn sie die Finger spreizte, konnte sie Anfang und Ende des Einschnittes nicht gleichzeitig berühren. Erst jetzt brachte sie den Mut auf, sich ihren Bauch genauer anzusehen. Das Mädchen schob die Bandagen zur Seite und betrachtete die frische Narbe, deren Nähte aussahen wie die Zähne eines riesigen Haifisches, der das gefräßiges Maul weit aufsperrte und sie mit Haut und Haar verschlingen wollte. Schnell zog sie die Verbände wieder über die Wunde.
        Das kleine Mädchen beschloss aus ihrem Bett zu kriechen und nach ihren Eltern zu sehen. Barfuß lief sie zur Zimmertür und drückte die Klinke herab. Aber die Tür war abgeschlossen, da half es auch nicht, dass sie immer wieder an der Klinke zog und nach ihren Eltern rief. Das kleine Mädchen erschrak sehr. Unsicher wich sie zurück und ging wieder zu ihrem Bett, wo sie sich verstört auf die Bettkante setzte und das Kopfkissen fest an sich presste. Wo waren ihre Eltern? Warum war die Tür abgeschlossen? War denn niemand zu Hause?
        Das kleine Mädchen drückte das Kissen noch fester an sich heran, es tat ihr gut, etwas zu umarmen, was ihr das Gefühl von Wärme und Geborgenheit vermittelte und dabei die Schmerzen lindern konnte, die sie in ihrem Bauch und ihrem Herzen ertragen musste. Traurig zupfte sie am Kissen herum und wusste weder ein noch aus. Sie verspürte eine innere Leere, die wohl nicht nur darauf zurückzuführen war, dass mit der Operation ein bloßes Stück Fleisch aus ihr geschnitten worden war. Man hatte ihr Kind von ihr genommen, und diese Wunde war tiefer, als alle Messer schneiden konnten.
        Als das kleine Mädchen den Verlust ihres Kindes als unabänderliche Tatsache erkannte, wurde sie rasend vor Wut und Ohnmacht. Sie sprang auf, rannte gegen die Wände an und schrie sich ihre Seele aus dem Leib, bis ihr der Kopf zu zerspringen drohte. Da war nicht nur das blanke Entsetzen über den Verlust, sondern auch Scham über ihre eigene Unfähigkeit das Kind zu beschützen. So schlug und kratzte sich das kleine Mädchen selbst, um sich für ihr Versagen zu bestrafen. Sie wollte sich die Schmerzen zufügen, die ihr Kind im Augenblick der Trennung gespürt haben musste. Das Mädchen taumelte ziellos durchs Zimmer und steigerte sich beinahe bis zur Besinnungslosigkeit in eine Hysterie hinein, aus der sie nie mehr erwachen wollte. Ihre Schreie gellten durch das Zimmer, und sie ließ nicht eher nach, bis sich ihre Stimme überschlug und in ein heiseres Jammern und Klagen überging. Mit allen Mitteln wollte das kleine Mädchen das Kind zurück. Sie wusste, dass sie wie jede Mutter ein Recht darauf hatte, ihr Neugeborenes in den Armen zu halten und ihm den Schutz und die Wärme zu geben, auf die es angewiesen war.
        Schließlich sank das kleine Mädchen erschöpft auf das Bett zurück. Am liebsten wäre sie tot gewesen. Mit welchem Recht hatte man ihr Kind geraubt und sie selbst am Leben gelassen? Wollte man sie etwa dafür bestrafen, dass sie ihr Kind geliebt hatte?
        »Wo bist du?« flüsterte das kleine Mädchen und legte ihr Gesicht in das Kissen das ihre Tränen aufsog und in dem ihr Schluchzen leise verhallte, ohne dass jemand hier gewesen wäre, der ihre Trauer wie ein Freund geteilt hätte.
        Draußen jagte der Wind die Gewitterwolken an der Sonne vorbei. Das Mädchen wusste nicht, wie lange sie da schon auf der Kante des Bettes gesessen hatte, als die Sonne soweit am Himmel gewandert war, dass ihre goldenen Strahlen durch das Fenster drangen und dem Mädchen ins Gesicht schienen. Geblendet drehte sie den Kopf zur Seite. Jetzt wurde sie zum ersten Mal der Schatten gewahr, die hinter ihr an die Wand geworfen wurden und die in Form und Gestalt ebenso wenig beständig waren wie die Wolken, die draußen über den Himmel zogen.
        Das kleine Mädchen schaute wieder zum Fenster hinaus und starrte gebannt in die Sonne. Ihre Augen, noch von den Tränen feucht, mit denen sie ihren Verlust beweint hatte, glänzten gleich einem Kristallspiegel, der wie in einem Märchen die Träume einer Prinzessin reflektieren konnte.
        Dann zog das kleine Mädchen die alte Spielekiste unter ihrem Bett hervor, in der sie ihre wertvollsten Schätze aufbewahrte. Aus der Truhe nahm sie ihre

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