Drachenelfen
außergewöhnliche
Körpergröße sowie die hagere, beinahe ausgezehrte Statur ihn als zu den
Kenkari gehörig auswiesen, schrak bei dem lauten Geräusch zusammen. Er hastete
zur Tür, schaute durch die Kristallscheiben und runzelte mißbilligend die
Stirn. Der Kenkari war es gewöhnt, daß Weesham – oder Gir, wie man sie
landläufig und durchaus angemessen nannte 35 – in verschiedenen Stadien tiefer Trauer Einlaß begehrten. Dazu gehörte der
fatalistische, stille Kummer der älteren, die von Jugend an das Leben ihrer
Anbefohlenen geteilt hatten, ebenso wie der verbissene, zornige Schmerz der
Krieger-Weesham, der seinen Schützling im Krieg untergehen sah, der zur Zeit
auf Arianus tobte und die trostlose Verzweiflung dessen, der ein Kind hergeben
mußte. Trauer bei einem Weesham war akzeptabel, sogar ehrenwert. Doch
neuerdings bemerkte der Hüter außer der Trauer noch eine andere Emotion, eines
Weesham nicht würdig – Furcht.
Er bemerkte die Anzeichen der Furcht auch bei
dieser Gir, wie bei zu vielen ihrer Berufung in letzter Zeit. Das heftige
Klopfen an die Tür, der gehetzte Blick über die Schulter, ein blasses Gesicht,
verstörte Augen. Langsam und feierlich öffnete der Hüter die Türflügel und
trat der Gir mit gemessenem Ernst entgegen. So zwang er sie, dem Ritual zu
folgen, bevor ihr Einlaß gewährt wurde. Der Kenkari, erfahren in diesen Dingen,
wußte, daß die vertrauten Worte, mochten sie dem Verzweifelnden auch hohl und
bedeutungslos erscheinen, durch ihre weihevolle Unveränderlichkeit tröstlich
und beruhigend wirkten.
»Bitte laßt mich ein!« keuchte die Frau, als die
kristallenen Türflügel lautlos nach innen schwangen.
Der Hüter versperrte ihr den Weg. Er hob beide
Arme. Fließende Stoffbahnen, bestickt mit Seidenfäden in schillerndem Rot, Gelb
und Orange, eingefaßt mit samtigem Schwarz, symbolisierten die Flügel des
Schmetterlings, das den Elfen heilige Insekt.
Der Anblick verwirrte Auge und Verstand und
mahnte gleichzeitig den Besucher an die Heiligkeit der Stätte. Die Gir besann
sich auf ihre Pflichten; Disziplin, von Jugend an zur zweiten Natur geworden,
gewann die Oberhand. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, sie hörte auf zu
zittern.
Gefaßt nannte sie ihren Namen, ihren Clan 36 und den Namen ihrer Anbefohlenen.
Letzteren brachte sie nur flüsternd über die Lippen und mußte ihn wiederholen,
bevor der Hüter verstand. Er durchforschte rasch die Kammern seines
Gedächtnisses, wo er den Namen zwischen Hunderten von anderen eingeordnet
fand, und vergewisserte sich, daß die Seele dieser jungen Prinzessin zu Recht
in die Kathedrale gehörte. (Kaum zu glauben, doch in diesem Zeitalter des
Niedergangs gab es tatsächlich Elfen bürgerlicher Herkunft, die nicht davor
zurückschreckten, ihre plebejischen Altvorderen dreist in die Kathedrale
einzuschmuggeln. Der Hüter der Pforte – unter Zuhilfenahme seiner umfassenden
Kenntnis des Stammbaums der königlichen Familie samt ihrer zahlreichen Seitenzweige,
sowohl legitim als auch anderer Art – entlarvte die Hochstapler, nahm sie
gefangen und überantwortete sie der Garde der Unsichtbaren.)
In diesem Fall bestand jedoch kein Zweifel an der
Rechtmäßigkeit des Anspruchs, und der Hüter brauchte keine weiteren
Überprüfungen anzustellen. Die junge Prinzessin, eine Großcousine des Kaisers
von seines Vaters Mutter Seite, war eine gefeierte Schönheit gewesen, berühmt
für ihre Klugheit und ihren Geist. Sie hätte noch lange Jahre leben sollen,
Gattin werden und Mutter von Kindern, die anmutig waren wie sie.
Der Hüter äußerte sich demgemäß, als er nach dem
Zeremoniell die Gir eintreten ließ und die Flügel des Kristallportals hinter
ihr schloß. Er bemerkte, daß die Frau vor Erleichterung tief aufatmete, aber
sie machte immer noch einen verstörten Eindruck.
»Ja«, erwiderte sie mit gesenkter Stimme, als
hätte sie selbst in diesem Refugium Angst, laut zu sprechen, »mein
wunderschönes kleines Mädchen stand erst am Anfang ihres Lebens. Ich freute
mich darauf, ihre Brautlaken zu nähen, statt dessen war es der Saum ihres
Leichentuchs!«
Die Gir, eine Frau von etwa vierzig Jahren,
strich mit der Hand liebkosend über den reichgeschnitzten Deckel der Schatulle
und flüsterte mit brüchiger Stimme Worte des Trostes für die arme, darin
gefangene Seele.
»Woran ist sie gestorben?« erkundigte sich der
Hüter mitfühlend. »Die Pestilenz?«
»Wenn es so
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