Drachenelfen
habe nicht geträumt, auch wenn sie mich das glauben machen wollten. Und ich
habe gespürt, wie sie mir folgten. Wohin ich auch gehe. Aber das ist ohne
Bedeutung. Es gibt keinen Grund mehr, weshalb ich weiterleben sollte. Ich
wollte nur jemandem erzählen, was geschehen ist. Und sie konnten mich schlecht
töten, bevor ich meine Pflicht getan hatte, oder?«
Sie streifte die Schatulle mit einem letzten
zärtlichen, kummervollen Blick und legte sie dann sanft in die ausgestreckte
Hand des Hüters.
»Nicht wenn es dies ist, worauf sie es abgesehen
hatten.«
Mit gesenktem Kopf wandte sie sich ab.
Der Hüter hielt ihr die Tür auf. Er sagte ein paar
aufmunternde Worte, aber sie waren leer, und beide, der sie sprach und die sie
hörte, wußten es. Während er die Finger über dem edelsteinbesetzten Kästchen
schloß, sah der Hüter zu, wie die Gir langsam die goldgefaßten Stufen
hinabschritt und das Temenos überquerte. Die Sonne schien hell, sie zeichnete
den langen Schatten der Gir hinter ihr aufs Pflaster.
Der Hüter fröstelte. Er blieb stehen, bis die
Frau aus seinem Blickfeld verschwunden war. Das Kästchen, das er festhielt,
bewahrte noch die Wärme ihrer Hand. Seufzend wandte er sich ab und schlug gegen
einen kleinen Silbergong auf dem Mauervorsprung neben der Tür.
Ein zweiter Kenkari, gekleidet in die
vielfarbigen Schmetterlingsroben, näherte sich lautlos auf weichen Sohlen.
»Übernehmt Ihr die Pforte«, befahl der Hüter.
»Ich muß dies ins Aviarium bringen. Ruft nach mir, sollte es nötig sein.«
Der Akolyth, des Hüters Adlatus, nickte und nahm
seinen Posten ein, um die Seelen eventueller Neuankömmlinge in Empfang zu
nehmen. Den Blick nachdenklich auf die Schatulle in seinen Händen gerichtet,
machte der Hüter sich auf den Weg zum Aviarium.
Die Kathedrale dAlbedo hat die Form eines
Oktagons. Koralit, vermittels Magie geformt und skulpiert, strebt majestätisch
empor und wölbt sich zu einer hohen, steilen Kuppe. Den freien Raum zwischen
den Koralitrippen füllen Mauern aus im Licht der Sonne gleißendem Kristall.
Sie gaukeln dem fernen Betrachter (keinem gewöhnlichen Sterblichen ist es
gestattet, das Temenos zu betreten) vor, er könne durch das Gebäude
hindurchsehen, dabei erliegt er einer durch verspiegelte Wände im Innern
hervorgerufenen optischen Täuschung. Jemand, der draußen steht, kann nicht
hineinsehen, aber von drinnen hat man einen ungehinderten Ausblick in die
Runde. Der freie, gepflasterte Platz um die Kathedrale – das Temenos – ist groß
und vollkommen leer: keine Statuen, kein Obelisk, nichts. Eine Raupe könnte
ihn nicht überqueren, ohne bemerkt zu werden. Auf diese Weise sorgen die
Kenkari dafür, daß ihre ehrwürdigen Geheimnisse geheim bleiben.
Im Mittelpunkt des Oktagons befindet sich das
Aviarium. Darum im Kreis angeordnet, liegen Studierzimmer und
Meditationsräume. Unter der Kathedrale haben die Kenkari ihre Zellen; auch ihre
Schüler, die Weesham, sind dort einquartiert.
Der Hüter lenkte seine Schritte zum Aviarium.
Es ist ein herrlicher Garten, begrünt mit
lebenden Bäumen und Pflanzen aus dem gesamten Elfenreich. An kostbarem Wasser –
wegen des Krieges im ganzen Land Mangelware und streng rationiert – wurde hier
nicht gespart. Freigiebig gespendet, ermöglichte es üppiges Leben
ironischerweise in einem Reich der Toten.
Keine Vögel zwitscherten in diesem Vogelhaus;
die einzigen Flügel, die sich zwischen den kristallenen Wänden regten, waren
unsichtbar, immateriell – die Schwingen der Seelen von königlichem Geblüt,
gefangen und gefangengehalten, um in Ewigkeit ihr stummes Lied zum Wohl des
Elfenreichs zu singen.
Vor dem Aviarium blieb der Hüter stehen und
schaute hinein. In der Tat ein herrlicher Ort. Bäume und Blumen gediehen hier
in solcher Pracht wie nirgends sonst im Mittelreich. Die kaiserlichen Gärten
grünten nicht wie dieser, denn selbst der Haushalt Seiner Majestät war von den
Einsparungsmaßnahmen nicht verschont geblieben.
Wasserzufluß und -Verteilung erfolgte durch
Rohre tief im Erdreich, das – so berichtete die Sage – von der Garteninsel
Hesthea herbeigeschafft worden war, Teil des Hohen Reichs und nun seit langem
verödet. 40 Abgesehen von der Bewässerung, erhielten die Gewächse keinerlei Pflege, außer
vielleicht von den Toten – eine der Lieblingsphilosophien des Hüters. Lebenden
wurde nur selten Zutritt zum Aviarium gewährt. Der Hüter konnte sich an kein
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