Drachenelfen
einziges Mal erinnern.
Kein Wind wehte in dem hermetisch abgeschlossenen
Raum; kein Lüftchen, kein Hauch vermochte sich hineinzustehlen. Dennoch sah
der Hüter das Laub an den Bäumen sich regen, sah die Blütenblätter der Rosen
zittern, sah zarte Stengel sich neigen. Die Seelen der Gestorbenen huschten
zwischen den blühenden, lebenden Dingen einher. Der Hüter verharrte einen
Moment, in nachdenkliche Betrachtung vertieft, dann wandte er sich ab. Früher
eine Stätte des Friedens und der Hoffnung, empfand er die Atmosphäre in letzter
Zeit als bedrückend. Er sah auf die Schatulle nieder, und die Falten der Sorge
in seinem Gesicht vertieften sich.
Vor der neben dem Aviarium gelegenen Kapelle
sprach er das rituelle Gebet, dann öffnete er leise die reichgeschnitzte Tür.
In dem kleinen Gemach saß die Hüterin des Buches an einem Pult und schrieb in
einen großen, ledergebundenen Folianten. Es war die Aufgabe der Kenkari, Namen,
Herkunft und wichtige Lebensdaten all derer festzuhalten, die von ihren Gir am
Portal abgegeben wurden.
Der Leib den Flammen, das Leben dem Buch, die
Seele dem Himmel, so lauteten die Worte des Rituals. Die Hüterin des
Buches hörte auf zu schreiben und blickte auf.
»Ein Neuankömmling«, sagte Bruder Pforte
bedrückt.
Schwester Buch nickte und schlug gegen einen
kleinen, silbernen Gong auf ihrem Pult. Ein dritter Kenkari, der Hüter der
Seelen, trat aus einem Nebengelaß. Schwester Buch erhob sich ehrerbietig von
ihrem Hocker. Bruder Pforte verneigte sich. Hüter der Seelen war der
höchste Rang bei den Kenkari. Als ein Magier des Siebten Hauses war der
Inhaber dieses Titels nicht nur der Mächtigste seines Clans, sondern auch einer
der mächtigsten Elfen im ganzen Reich. Früher einmal hatte das Wort von Pater
Seele genügt, um Könige in die Knie zu zwingen. Aber heute? Bruder Pforte hegte
seine Zweifel.
Bruder Seele nahm die Schatulle andachtsvoll in
Empfang. Er stellte sie auf den Altar, kniete nieder und begann mit den
Gebeten. Bruder Pforte nannte den Namen der Prinzessin und berichtete alles,
was ihm von ihrer Abstammung und ihrem Lebenslauf erinnerlich war, während
Schwester Buch sich Notizen machte, um später, wenn sie Zeit hatte, einen
detaillierten Bericht abzufassen.
»So jung«, meinte Schwester Buch und seufzte.
»Die Todesursache?«
Bruder Pforte leckte sich über die trockenen
Lippen. »Mord.«
Schwester Buch hob den Blick, starrte ihn an,
schaute hinüber zu Bruder Seele, der sein Gebet unterbrach und sich zu ihnen
herumdrehte.
»Du scheinst dir diesmal sicher zu sein.«
»Es gab eine Zeugin. Die Droge konnte ihre
Wirkung nicht voll entfalten. Unsere Weesham hat scheint’s einen
anspruchsvollen Gaumen. Sie vermag einen guten Tropfen von einem schlechten zu
unterscheiden und mochte den vergifteten Wein nicht trinken.«
»Wissen sie Bescheid?«
»Die Unsichtbaren wissen alles«, sagte Schwester
Buch mit gedämpfter Stimme.
»Man hat sich ihr an die Fersen geheftet. Sie
sagte, sie würde verfolgt.«
»Hierher?« Die Augen von Bruder Seele loderten
auf. »Doch nicht bis ins Temenos!«
»Nein. Vorläufig wagt der Kaiser das noch
nicht.«
Das Wort vorläufig hing unheilvoll in der
Luft.
»Er wird unvorsichtig«, äußerte Bruder Seele.
»Oder kühner«, meinte Bruder Pforte.
»Oder verzweifelter«, gab Schwester Buch leise
zu bedenken.
Die drei Kenkari schauten sich an. Bruder Seele
schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer bebenden Hand durch das weiße,
schüttere Haar. »Und nun kennen wir die Wahrheit.«
»Wir kennen sie schon lange«, sagte Bruder
Pforte, aber so leise, daß sein Konfrater es nicht hörte.
»Der Kaiser mordet sein eigen Fleisch und Blut,
um sich Unterstützung für seine Sache zu verschaffen. Er kämpft an zwei Fronten
gegen drei Gegner: die Rebellen, die Menschen, die Gegs von Drevlin. Alter Haß
und Feindschaft hindert die drei Gruppen daran, sich zu verbünden, aber wenn
nun etwas geschieht und sie schließen einen Pakt? Das ist es, was der Kaiser
fürchtet; das ist, was ihn zu diesem Wahnwitz treibt.«
»Es ist Wahnwitz«, sagte Bruder Pforte. »Er verstümmelt
den Baum seines Blutes, kappt ihm die Äste, schlägt die Wurzeln ab. Die Jungen,
die Starken, deren Seelen sich am beharrlichsten ans Leben klammern – die sind
es, die er morden läßt. Er hofft, daß sie ihre Stimme mit der von Krenka-Anris
vereinen, unseren Zauberern größere magische Kräfte
Weitere Kostenlose Bücher