Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
auf das Lager, das er für sie errichtet hatte. Dann holte er ein Fläschchen mit Lampenöl unter seinem Umhang hervor, öffnete den Verschluss und schüttete das Öl über die Tote. Obwohl die Haut straff auf Talinwyns Schädel lag, ihre Lippen nur noch dünne Linien und die Augen leere Höhlen waren, hatte sie sich einen Abglanz ihrer Schönheit erhalten.
»Ihre Augen waren einmal grün«, sagte Gonvalon leise. »Du hättest sie sehen sollen an jenem Tag, als die Himmelsschlangen sie auf ihre erste Mission schickten. Ihre Augen waren so voller Leben und Leidenschaft gewesen. Im Drachenpalast bei der Jadebucht bin ich ihr zum letzten Mal begegnet.« Gonvalons Blick war abwesend, ruhte auf Bildern, die weit in der Vergangenheit lagen. »Liuvar«, hauchte er und ließ die brennende Fackel fallen.
Die Flammen leckten über das Segeltuch, und binnen eines Herzschlags wuchsen sie zu einer lodernden Flammensäule.
»Fort hier!« Nodon zerrte Gonvalon mit sich. Sein Plan war davon ausgegangen, dass alle Wächter zu den Flammen eilen würden, und sie beide umso leichter entkommen könnten. Nodon war davon nicht überzeugt gewesen.
Selbst Menschenkinder wären nicht so dumm. Sie würden Alarm geben und die Postenkette auf dem Weg am Kraterrand verstärken. Die Wachen mussten nicht zu ihnen hinabsteigen, das wusste Nodon jetzt. Das, was in der Tiefe des Kraters lauerte, würde ihnen die Arbeit abnehmen. Die Menschenkinder würden sich ihnen nur in den Weg stellen, wenn sie es schaffen sollten, aus dem Weltenmund zu entkommen. Ihre einzige Hoffnung auf Flucht war jetzt Geschwindigkeit. Sie mussten entkommen, bevor die Menschenkinder aus der Lethargie endloser Wachnächte aufschreckten. Es durfte nicht zum Kampf kommen! Sie waren Drachenelfen, das würde nicht verborgen bleiben, wenn sie ihre Klingen zogen, und wer Augen hatte zu sehen, der würde es an den Leichen jener erkennen, die den Fehler gemacht hätten, sich ihnen in den Weg zu stellen. Die Art der Wunden und die Zahl der Toten würden eine deutliche Sprache sprechen.
Endlich erwachte Gonvalon aus seiner Starre. Er zog sein Schwert.
»Das brauchen wir nicht«, raunte Nodon, während sie sich den Hang hinaufarbeiteten. Sie hatten fast die Grenze des Nebels erreicht. Die Wachfeuer auf den Türmen waren fahlgelbe Lichter, die mit jedem Schritt nach oben einen Hauch an Leuchtkraft gewannen.
Irgendwo unter ihnen löste sich eine Gerölllawine und ging mit infernalischem Getöse den Hang hinab. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Dann wieder. Und noch einmal. Das war kein Erdbeben. Da bewegte sich etwas. Etwas Riesiges! Hatten sie Nangog mit ihrem tollkühnen Vorstoß im Schlaf gestört?
Nodon glaubte, ein zischendes Atmen zu hören. Der Nebel unter ihnen geriet in Bewegung. Er wurde eingesogen!
Das zu sehen, verlieh Nodons Füßen Flügel. Er berührte kaum noch den Hang, mied die tückischen Geröllfelder nicht mehr, und als er den Nebel hinter sich ließ und die Wachtürme und all die schattenhaften Gestalten auf dem Weg am Kraterrand sah, da erschien ihm diese ganz konkrete, greifbare Gefahr wie eine Erlösung.
Gonvalon hielt sich neben ihm. Wieder erbebte der Hang. Was immer ihnen folgte, war noch tief unter ihnen. Von oben ertönten Warnrufe. Hörnerklang erfüllte die Nacht. Männer mit Fackeln verstärkten die Wachen auf dem Weg. Eine Feuerkugel stürzte den Abhang hinunter – ein Ballen aus pechgetränktem Stroh, der das Dunkel vertreiben sollte.
Wieder erklang der zischende Laut, begleitet von einem Geräusch wie übereinanderschabendes Metall.
Der Nebel streckte einen geisterhaften Arm den Hang hinauf. Unnatürlich schnell. Er verschlang sie, dämpfte den Fackelschein erneut zu mattem Glühen und brachte noch ein weiteres Geräusch mit sich. Flügelschlagen!
Plötzlich versetzte Gonvalon ihm einen Stoß, der ihn von den Beinen riss und der Länge nach stürzen ließ. Etwas glitt dicht über ihm hinweg. Nodon rollte herum, schlug mit dem Schwert in den Nebel und traf etwas, das nicht mehr als ein Schatten war. Ein Schrei, nicht von einem Tier und auch nicht von einem Menschenkind, war die Antwort auf seinen Angriff. Etwas Dunkles fiel neben ihm zu Boden. Nodon griff danach und war im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen.
Weiteres Flügelschlagen war zu vernehmen. Keine zehn Schritt entfernt hastete hüpfend eine Feuerkugel den Hang hinab und schnitt eine schmale Gasse durch den Nebel, bevor das wogende Weiß sie doch verschluckte.
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