Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
Winter seine Herrschaft noch lange nicht aufgeben. Erst gestern hatte es stundenlang geschneit.
Bis dort oben im Tal, nahe dem Felsturm, der Frühling einzog und die Kirschblüte begann, würden noch Wochen vergehen. Ihm blieb noch viel Zeit, sich auf die Befreiung Shayas vorzu bereiten.
E in leichter Auftrag
Mit sicheren Schritten balancierte Nandalee über den federnden Birkenstamm, der über einen kleinen Gebirgsbach führte. Die Schneeschmelze hatte das Wasser so anschwellen lassen, dass die gurgelnden weißen Fluten fast bis unter den Stamm reichten.
Mit einem Sprung landete sie sicher am anderen Ufer. Sie blickte zu Gonvalon zurück, der mit ebensolcher Leichtigkeit wie sie den Stamm überquerte. Die fast sechs Monde, die sie mit ihm in den Bergen des Jadegartens verbracht hatte, hatten sie ihre Vorurteile über Palastelfen vergessen lassen. Zumindest was ihn anging. Fast jeden Tag hatte er sie aufs Neue überrascht. Er vermoch te mit bescheidensten Mitteln in der Wildnis köstliche Mahlzeiten zu zaubern, wusste, welche Wurzeln und Kräuter schmackhaft wa ren und wo er sie in den Bergen finden konnte. Er war zäh und ausdauernd, so wie sie. Nur als Jägerin war sie ihm voraus, obwohl auch er ein fast schon beängstigendes Talent besaß, sich lautlos anzuschleichen.
Vor allem aber war er ein aufmerksamer Gefährte. Sie war sprachlos gewesen, wie gut er sie kannte, wie er über ihre Marotten mit einem Lächeln hinwegging und nicht müde wurde, ganze Nächte mit ihr am Lagerfeuer zu reden. Er hatte so vieles gesehen. Steckte so voller Geschichten. Deutlich hatte sie spüren können, wie gut es ihm getan hatte, über seine Zeit als Drachenelf zu sprechen. Sich die dunklen Taten von der Seele zu reden. Sie hatte nie über ihn geurteilt, sondern einfach nur zugehört. Nur eines hatte ihr manchmal einen Stich versetzt. Er war ein zu guter Liebhaber. Wenn sie beieinanderlagen, hatten sie es genossen, doch wenn sie danach manchmal schlaflos zu den Sternen blickte, hatte sie sich immer wieder gefragt, wie viele Frauen es wohl vor ihr gegeben hatte. Darüber schwieg er sich aus oder entgegnete nonchalant, dass sie die Eine sei, die seine verzweifelte Suche nach der vollkommenen Liebe zu einem glücklichen Ende gebracht hatte.
Gonvalon hatte sicher den Wildbach überquert und lächelte sie herausfordernd an. »Du dachtest, ich nehme ein unfreiwilliges Bad und du hättest einen großen Auftritt als meine Retterin.« Er kannte sie so gut!
Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Nandalee genoss die kühle, klare Luft der Berge. Sie war eine angenehme Abwechslung zur trockenen Hitze des Jadegartens und erinnerte sie an die Heimat ihrer Kindheit. Der dichte Fichtenhain links am Hang hätte auch in Carandamon stehen können. In den Schatten, dort, wo die Sonne nicht hinkam, lag noch ein wenig Schnee.
An ihrem ersten Tag hier in diesen Bergen hatte sie für Gonvalon ein kleines Schneehaus gebaut, wie sie es früher so oft während ihrer einsamen Jagdausflüge getan hatte. Sie waren hoch in den Bergen, mehr als siebzig Meilen von Selinunt entfernt, durch einen minderen Albenstern getreten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Gonvalon hatte die Nacht im Schneehaus zähneklappernd und fast ohne Schlaf hinter sich gebracht. Dabei war es drinnen deutlich wärmer als am Berghang gewesen. Die Temperatur im Schneehaus hatte kaum unter dem Gefrier punkt gelegen, und sie waren gut vor den eisigen Winden geschützt gewesen. In jener einen Nacht hatte er sich doch als Palastelf erwiesen. Nandalee musste bei der Erinnerung daran lächeln. Sie würde ihn noch lange damit aufziehen, wie verfro ren er war.
Sie passierten einen aufgegebenen Lagerplatz. Ein einziger Blick auf die Asche und Holzkohle, die zu einer schwarzen Fläche innerhalb eines kleinen Steinkreises geworden war, verriet Nan dalee, dass dieses Lager schon vor dem Winter aufgegeben worden war. In den Bergen waren Holzfäller unterwegs gewesen. Doch anders als auf Nangog hatten sie sich besonnen verhalten und nur etwa ein Fünftel der Bäume geschlagen. Nirgends hatten sie in der Fläche gerodet, sondern immer nur einzelne Bäume gefällt. So blieb genug Wurzelwerk übrig, um die Erde zu halten, die sonst unweigerlich vom Regen und der Schneeschmelze davongespült wurde, bis nur noch Geröll oder blanker Fels blieben. Die Menschenkinder wussten also auch, wie man weise mit den Schätzen der Natur verfuhr.
»Dort oben vom Bergkamm aus müsste man Selinunt sehen können«,
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