Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
Familie wieder auf die alten Aufzeichnungen gestoßen sein. Er entdeckte, was sein Ahnherr hier verscharrt hatte. Das ganze große Panoptikum. Und dann fand er heraus, dass es nicht tot war. Der scheidende Inquisitor hatte seine Exponate in dem Schwefelgestein so gut konserviert, dass ihnen nichts weiter geschah als ein einziger langer Schlaf.
Mittlerweile hatten die de Vendettas im neuen Papst einen Protegé gefunden. Anastasius XIII., das Ergebnis einer knappen Wahl und zuzeiten etwas wankelmütig, konnte seinerseits die Unterstützung jener Familie gut gebrauchen. Immerhin stellte sie in ihren Verzweigungen zwei Kardinäle und eine handvoll Bischöfe. Außerdem hatte man ihm den zu erwartenden Ruhm in leuchtenden Farben ausgemalt.
Also wurden die Versiegelungen wieder geöffnet. Nun stand Leonardo de Vendetta an der Stelle seines Vorfahren und verfolgte eigene Pläne, sein Siegel ins Mark der Geschichte zu brennen.
Seit Stunden stieg Auguste aufwärts, und schon vor einer ganzen Weile hatte sich der Nebel um sie geschlossen wie eine weiße Faust. Sie ahnte, dass diese Nacht für ihren Plan günstig war, und das gefiel ihr nicht. Denn tief im Inneren sorgte sich die Hexe noch immer davor, dass sie womöglich Erfolg hatte.
Schnaufend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Hin und wieder hielt sie sich am Stamm eines Baumes fest, und die ganze Zeit über murmelte sie halblaute Dinge vor sich hin. Es kam selten vor, dass jemand die alte Eulalia um Rat befragte – dabei konnte sich Auguste kaum jemanden vorstellen, der besser für welchen geeignet wäre.
Eulalia Weidensang war alt. Uralt. In ihren Worten lag Weisheit, und ihre Gedanken drangen tief. Niemand konnte sich an eine Zeit erinnern, in der es sie nicht gegeben hätte. Allerdings waren ihre Ratschläge bisweilen etwas wunderlich.
Wenn man in so großen Zeiteinheiten dachte, wie Eulalia es tat, dann war die kurze Spanne der Gegenwart immer etwas heikel. In der Regel folgte daraus nur eine hoffnungslose Nostalgie – doch manchmal gerieten auch Dinge mit ins Blickfeld, die noch gar nicht geschehen waren. Das eigentliche Problem mit ihren Ratschlägen aber war ein anderes: Die alte Eulalia liebte es nicht, gestört zu werden.
Weit oben im Gebirge lag ein bestimmtes Tal. Es hielt sich zwischen der Flanke des Bärensteins und der eines kleinen Nebengipfels verborgen. Dieser Nebengipfel war ein Paradebeispiel für die bisweilen haarsträubenden Verirrungen ländlichen Humors. Er wurde von allen nur ‚der Zipfel’ genannt. Und wenn die Erwachsenen unter sich waren, brachen sie danach in prustendes Kichern aus.
Dieses Tal war so abgelegen und unscheinbar, dass es kaum je betreten wurde. Und aus eben diesem Umstand wob es seinen Zauber. Manchmal wich es vor den Schritten eines Wanderers zurück, als wolle es sich entziehen. Dann wieder näherte es sich so rasch, dass man im Handumdrehen vorbeigeeilt war, ohne es zu bemerken. Wer es aber erreichte, fand inmitten einer Stille, die so alt war, dass man selbst im Frühling den Duft frisch gefallenen Laubes roch, einen See.
An seinem Ufer würde sie auf Eulalia treffen.
Keinen Moment ließ Auguste Fledermeyer den Weg aus den Augen – aus Angst, er könne sich davonwinden und sie in die Irre führen. Die alte Eulalia stand in dem Ruf, mürrisch zu sein, und die meiste Zeit über schlief sie. Die Regeln besagten, dass man sie jederzeit wecken durfte. Doch wer es tat, der tat auch gut daran, hinterher einen triftigen Grund vorzuweisen.
Einige Stunden später überkam sie das Gefühl, dass sie nie wieder aus diesem Nebelmeer hinausgelangen würde. Sie lief noch immer bergauf, doch es hätte Auguste nicht überrascht, wenn sie bereits auf einem der Gipfel angekommen und beim nächsten Schritt auf dessen anderer Seite wieder hinabgekullert wäre.
Irgendwann musste ihre Aufmerksamkeit doch nachgelassen haben, und der Weg war ihr entglitten. Was freilich nicht schwer war, wenn der Blick ebenso weit reichte wie die suchend ausgestreckten Finger. Vielleicht war das auch gar kein Nebel mehr, und sie war unversehens bis in das milchige Angesicht des Mondes hinaufgestiegen. Dagegen sprachen allerdings die kantigen Felsen und unvorhergesehenen Löcher, denen ihre Füße immer wieder begegneten.
Verdorrte Baumgerippe reckten die Überbleibsel ihrer Äste richtungslos in den Nebel. Ihre Farbe war nur unmerklich dunkler als das umgebende Grau. Nach wenigen Metern verblassten sie bereits zu unkenntlichen Schemen, um sich kurz
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