Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
zunehmend enger werdenden Korsett aus Zweigen gefangen, brachte sie nur noch ein heiseres Wispern hervor.
„Ich kann dir nichts anbieten, ich habe nichts. Aber man hat mir gesagt, du hättest letztlich ein gutes Herz.“
Noch einmal musterte sie der Baum. In den Tiefen seiner Augen schien Spott zu flackern – sowie etwas anderes, das die Hexe nicht zu deuten wusste.
„Dann hat man dich belogen.“
Damit schien das Gespräch vorüber. Ein Ruck lief durch Augustes Körper, als die Zweige sich wieder in Bewegung setzten. Mit zähem Knirschen öffneten sich die Kiefer der Weide. Schwarz drohte dahinter der Abgrund, und lange Reihen hölzerner Zähne begrüßten sie. Diese machten keinen besonders gepflegten Eindruck. Viele waren gesplittert, und kaum zwei hatten dieselbe Form. Aber sie ließen keinen Zweifel daran, sowohl lang als auch außerordentlich kräftig zu sein.
Immer näher rückte Auguste dem hölzernen Schlund. Sie versuchte, sich zu wehren, zu bewegen und kam keinen Zentimeter weit. Mit verzweifelter Anstrengung bemühte sie sich um irgendeine Zauberformel. Und scheiterte. Dieses Tal duldete nur eine Quelle von Zauberei – und die war ihr gerade nicht wohlgesonnen.
Schließlich ragte ihr Kopf über die Reihen der Zähne hinweg. Die Hexe blickte direkt in das Dunkel hinab, und der schwere, süßliche Geruch von faulendem Holz wehte ihr entgegen. Genau dort blieb sie hängen.
Lange.
Sehr lange.
Aufgrund der unangenehmen Lage und des wenig behaglichen Dufts drohte sie langsam die Besinnung zu verlieren. Purpurne Flecken tanzten vor ihren Augen. Da drang aus der Tiefe ein undeutlich artikuliertes „Ach, verdammt!“ empor. Die Zweige zogen sie zurück, und mit mühsam verhaltener Enttäuschung wurde Auguste ins Laub geworfen. Sie keuchte hingebungsvoll, als die Luft den Weg zurück in ihre Lungen fand. In ihren Ohren rauschte das Blut. Nur undeutlich hörte sie den Baum hinter sich fluchen.
„Mist! Jedes Mal dasselbe. Immer bleibe ich an dem Punkt hängen, an dem ich einfach nur noch zubeißen müsste!“
Auguste, die sich benommen aufrappelte, konnte sehen, wie das Eichhörnchen zurückkehrte und mitfühlend gegen die Seite des Stammes klopfte. Auch der Rest des Tales schien sich ein wenig zu beruhigen.
„In meiner Jugend habe ich es sogar ein paar Mal geschafft, aber das Ergebnis war… fürchterlich! Überall dieses Blut. Und außer Erde kann ich eh nichts verdauen. Liegt mir nur jahrelang schwer im Magen.“
Eine verlegene Stille trat ein, dann wandten sich die Augen des Baumes wieder der Hexe zu. Das grollende Feuer war verschwunden.
„Nimm’s nicht persönlich. Eigentlich finde ich es sogar ganz nett, wenn hin und wieder mal jemand vorbeikommt.“
Mühsam kämpfte sich Auguste auf die Beine. Diesmal war es an ihr, eine gewisse Entrüstung zu verspüren.
„Moment mal. Im einen Augenblick willst du mir noch den Kopf abbeißen, und dann behauptest du, das wäre nicht persönlich gemeint?“
Das Eichhörnchen warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber die Weide wirkte betreten, und als sie fortfuhr, hörte sie sich sogar ein wenig kleinlaut an.
„Weißt du, man muss die Sache ein wenig philosophisch sehen...“
„Philosophisches Kopfabbeißen?“
„Ich geb’s ja zu. Anfangs scheint es nicht viel Sinn zu machen. Ich meine, man steht hier rum, erkundet mit seinen Wurzeln die Welt, jahrein, jahraus. Und wenn dann durch Zufall mal jemand vorbeikommt, reißt man ihn in Stücke?“
Der Baum ließ ein tiefes Seufzen hören. Augustes Augen flammten immer noch vor ehrlicher Empörung.
„Aber ganz so einfach ist es nicht. Du hast keine Ahnung, wie es hier früher ausgesehen hat! Kaum bekommen die Leute mit, dass du hin und wieder Ratschläge gibst, die vielleicht nicht einmal ganz dumm sind, schon kommen sie in Scharen zu dir. Zu jeder Tages- und Nachtzeit tauchen sie auf, um dir eine Frage zu stellen. Und ob du’s glaubst oder nicht: Mit der Zeit werden diese Fragen kontinuierlich dümmer. Aber darüber habe ich mich nicht einmal beschwert. Weit unangenehmer war, dass plötzlich einige Leute dazu neigten, mit Fackeln oder Sägen zurückzukommen, wenn ihnen ein Ratschlag mal nicht gefiel oder – schlimmer noch – wenn trotzdem etwas schiefging.“
Mit einigen Zweigen deutete die Weide auf die Kerben in ihrem Stamm und wurde plötzlich ausgesprochen ernst.
„Glaub mir: Wenn du das dritte Mal aufwachst, weil jemand an dir herumkokelt oder eine Axt in dich hineintreibt, wirst du
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