Drachenfliege Bd. 1 - Schatten über Schinkelstedt
nachspioniert, unsittliche Dinge angetragen, und die ganze Welt stand plötzlich auf dem Kopf. So etwas musste zählen.
„Ich kenne die Regeln,“ bekräftigte sie noch einmal. „Es ist wichtig.“
Langsam und würdevoll nickte das Eichhörnchen. Vorsichtig kam es den Stamm herab und maß Auguste wiederum mit einem langen Blick. Dann zwickte es mit seinen kleinen, scharfen Zähnen sanft in eine bestimmte Stelle der Wurzeln hinein. Anschließend schnappte es sich die Nuss und verschwand erstaunlich behände in der Dunkelheit.
Auguste erhob sich und hielt den Atem an.
Ein Schütteln lief durch den Stamm. Es begann sehr unscheinbar. Ganz langsam breitete es sich aus, tanzte durch Borke und Blätter, bis es die äußersten Zweige erreichte, die wirre Zeichen auf das Wasser schrieben. Ein tiefer Ton wie ein gewaltiges Grollen drang aus dem Boden. Die Nebelfinger lösten sich auf, begannen in hektischen Spiralen zu tanzen und spielten durcheinander. Einige Krumen Erde bröckelten von der Böschung ab und fielen in den See, wo sie in unruhigen Kreisen vergingen.
Ein allgemeines Rascheln und Trippeln, das rasch an Hektik gewann, ertönte aus dem Unterholz. Einzelne Blätter wurden empor gewirbelt und aufgeregtes Fiepen erklang. Offenkundig befand sich alles, was über die nötigen Beine oder funktionstüchtige Alternativen verfügte, auf einer zielstrebigen Flucht zu den äußeren Rändern des Tales. Mit ungutem Gefühl stand Auguste in einem einsamen Kreis, dessen Durchmesser zügig wuchs.
Ein Ächzen und Knarren erhob sich, der ganze Baum begann zu schwanken. Risse liefen über seine Borke, als er sich in alle Richtungen streckte. Kleine Rindenstücke platzten ab und flogen davon. Schließlich formten die Risse die groben Konturen eines Gesichtes. Es war kein besonders feingeschnittenes Gesicht, keines, das man als anmutig bezeichnet hätte. Doch im Großen und Ganzen war es zweifelsfrei zu erkennen. Eine Öffnung erschien, und das Grollen entlud sich in einem markerschütternden Gähnen.
Tiefe, goldgesprenkelte grüne Augen von der Größe einer Hand blickten über eine lange Nase hinweg auf die Hexe herab. Ruhelos wirbelnde Äste zerfurchten den Himmel. Die Luft im Tal schien sich belebt zu haben, als wäre etwas von der elektrisierenden Kraft eines Gewitters hineingefahren – doch noch immer hatte sie das Gewicht von schwerem Brokat. Auguste senkte andächtig den Kopf.
„Wer bist du?“
Die Stimme des Baumes war tief und brüchig. Die Hexe konnte jeden einzelnen Laut in ihrer Magengrube spüren.
„Ich heiße Auguste Fledermeyer.“
„Was willst du?“
„Ich bin gekommen, dich um Hilfe zu bitten, Eulalia.“
Viel bündiger ließ es sich nicht ausdrücken. Auguste setzte eine feierliche Miene auf und versuchte dabei, ein gewisses Zittern in den Knien zu unterdrücken. Der Baum unterdessen schien die Reste seiner Müdigkeit abzuschütteln.
„Aha. Hilfe also. Sag mir, warum mich das nicht überrascht! Warum kommt ihr mit so was immer zu mir? Nie kommt jemand vorbei und bringt Geschenke oder möchte mir mal einen Gefallen tun.“
Es folgte eine verblüffte Stille. Mit der Zeit wurde sie bedächtig. Allmählich neigte sie sich der Ratlosigkeit zu.
„Nun?“
„Aber ich brauche Hilfe. Ehrlich.“
„Das, meine Teuerste, glaube ich gern. Aber was hast du dafür zu bieten, dass ich an deinen Sorgen Anteil nehme?“
Noch bevor die Hexe Zeit für eine Antwort hatte, fuhr Eulalia fort:
„Hat mein Ruf so sehr nachgelassen? Hat man dir nicht erzählt, dass es gefährlich ist, sich an mich zu wenden?“
Vor Schreck weigerte sich Augustes Mund, das Wort ‚doch’ auszusprechen. Stattdessen behalf sie sich mit einem vagen Nicken.
„Gut.“
Langsam krochen die sich windenden Zweige auf die Hexe zu und tasteten nach ihr. Auguste wich zurück, stieß jedoch unvermittelt gegen einen dichten Vorhang aus Ästen, die sich hinter ihr zusammenschoben. Die Arme Eulalias umfingen sie, ringelten sich um ihren Körper und pressten die Luft aus ihren Lungen.
Ganz langsam verloren Augustes Füße den Kontakt zum Boden. In schlingernden Bewegungen hob die Weide sie empor und schwenkte sie durch die Luft. Schließlich hielt sie die Hexe ganz nah vor ihr hölzernes Antlitz. Ihre Augen glommen in grollendem Feuer. Die Dunkelheit im Tal schien sich zu verdichten, und der Nachhall ihrer Worte vibrierte im Boden.
„Also: Warum sollte ich dir helfen?“
Auguste spürte, wie sich ihr Gesicht dunkelrot verfärbte. In einem
Weitere Kostenlose Bücher