Drachengasse 13, Band 04
unwillige Geste. „Mach schon. Neugierig bin ich natürlich auch. Und wenn mir das Gesicht des Burschen auf dem Bild nicht passt, schnitze ich ihm hiermit ein neues.“ Er legte die Hand auf seinen Dolch.
Tomrin nickte, dann streckte er erneut die Hand aus und zog das Tuch mit einem Ruck beiseite.
Die drei Freunde zuckten verblüfft zusammen, denn die Gesichter, in die sie blickten, waren … ihre eigenen! Es war kein Gemälde, sondern ein Spiegel.
„Bei den Zweigöttern“, murmelte Tomrin und fuhr sich mit der Hand durchs blonde Haar. „So einen riesigen Spiegel habe ich ja noch nie gesehen. Schaut euch das Ding nur an!“ Er beugte sich vor und studierte im Schein der Kerze sein eigenes Gesicht. „Der ist unglaublich gut. Ganz anders als die Silberspiegel meiner Mutter.“
Sando konnte dazu nichts sagen. Wann immer er sich selbst betrachten wollte, musste er auf die Wassertonne hinter Gumps Brandung zurückgreifen und warten, bis die Sonne im richtigen Winkel auf ihren Inhalt schien.
„Warum der wohl hier unten steht?“, wunderte sich Hanissa, die ebenfalls fasziniert näher getreten war.
Im nächsten Augenblick sollte sie es erfahren. Ihr Entsetzensschrei zerriss die Stille des Kellers.
Fleck hockte oben in der Wohnstube der Drachengasse 13 und war unzufrieden. Der Tag hatte so gut begonnen. Hanissa hatte ihm beim Frühstück Leckereien vom Tisch zugesteckt. Anschließend hatten sie einen Spaziergang durch Bondingor gemacht, und Fleck hatte festgestellt, dass Pfützen, obwohl sie alle gleich flach aussahen, unterschiedlich tief sein konnten. In der Drachengasse 13 angekommen, hatten Tomrin und Sando mit ihm Ball gespielt. Aber dann war er hingefallen, und diese blöde Klappe hatte sich geöffnet. Seitdem waren seine drei Freunde fort, und er musste hier allein sitzen und hatte nichts zu tun. Blöd.
Nachdem er eine Weile missmutig vor dem gähnenden Kellerloch gehockt hatte, ließ er sich auf alle viere nieder und schob die Schnauze vorsichtig in das Loch hinein. Es roch kalt und muffig dort unten.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es klang wie ein gedämpftes Poltern. Dann schrie Hanissa. Ob es sich um einen Freuden- oder einen Angstschrei handelte, vermochte Fleck nicht so genau zu sagen.
Behutsam setzte er eine Vorderpfote auf die oberste Stufe und stieß ein fragendes Quäken aus. Als er keine Antwort erhielt, machte er zwei Schritte die Stufen hinab und wiederholte es. Erneut drangen gedämpfte Geräusche zu ihm herauf. Es klang, als würden Türen geöffnet und geschlossen. Dann wurden Schritte laut, und einen Augenblick später tauchten Tomrin, Hanissa und Sando unten am Fuß der Treppe auf.
„Fleck“, rief Tomrin überrascht. „Was machst du denn da?“
„Es sieht so aus, als habe er uns nachlaufen wollen“, meinte Sando, während die drei die Stufen nach oben erklommen. „Er war wohl besorgt, weil wir so lange da unten waren.“
Tomrin schenkte Fleck ein Grinsen. „Dazu besteht kein Grund, Kleiner. Alles ist gut.“
Fleck wusste nicht, wieso, aber aus irgendeinem Grund war er sich da nicht ganz so sicher.
Kapitel 2
Nachtschatten
Nebelschwaden strichen um die Türme der Magischen Universität. Fahles Mondlicht erhellte den weißen Dunst und verlieh ihm ein unheimliches Glühen. Eine ferne Glocke schlug zur Geisterstunde – so leise, als fürchte sie sich vor der Nacht, die die Stadt am Ufer des Fleet in ihren Bann geschlagen hatte.
Genau wie der kleine Drache in Hanissas Zimmer.
Fleck quäkte ängstlich und kroch ein wenig tiefer unter das Bett des rothaarigen Mädchens. Normalerweise machte ihm die Nacht nichts aus. Er wusste schließlich, dass es nach den hellen immer wieder dunkle Stunden gab. Aber normalerweise schlief er in denen tief und fest. In dieser Nacht allerdings bekam er kein einziges schuppiges Augenlid zu.
Mucksmäuschenstill lag er da und lauschte in die Stille. Er hörte die tiefen Atemzüge der großen Frau im Zimmer auf der anderen Seite der Wohnstube: Corinda, Hanissas Nestmutter. Auch die Bodendielen des Flurs draußen vor der Wohnungstür machten Geräusche; sie knarrten und knackten, wie es altem Holz, in dem es arbeitete, nun einmal zu eigen war. Das war nichts Besonderes – dennoch hatte Fleck Angst, es schleiche da draußen ein Ungeheuer den Korridor hinab. Eines mit spitzen Zähnen und ganz großem Hunger auf Drachenfleisch.
Ein Quietschen über ihm ließ Fleck aufhorchen. Hanissa bewegte sich im Bett. War denn schon Morgen? Hoffnungsvoll
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