Drachenkaiser
nach wie vor ungewohnt, sich mit langen, dunklen Haaren anstatt mit dem gewohnten Pagenschnitt zu sehen. Ihre Züge waren reifer geworden. Grigorij nannte es attraktiver, weiblicher und weniger mädchenhaft, sie fand es einfach nur älter. Die Verantwortung schlägt mir Falten.
Sie drehte den Kopf ein wenig, um die Augenpartie besser betrachten zu können – und durch ihren Nacken zuckte ein stechender Schmerz. Die Finger ihrer rechten Hand zitterten, beinahe hätte sie die Kanne fallen lassen. Obwohl sie den Schmerz zur Genüge kannte, überrumpelte er sie immer wieder aufs Neue.
Schon wieder! Silena fuhr mit der linken Hand über den Hals zum Genick und ertastete die unscheinbare Narbe, die sie seit ihrer schweren Verwundung am Triglav trug. Der Preis, den sie für ihr Leben zu entrichten hatte, waren die gelegentlichen Qualattacken und das Zittern der Hand. Im Zimmer war es nicht weiter schlimm, im Gefecht aber könnte es tödliche Folgen haben.
Am Tee nippend, entsann sie sich an den Tag, an dem sie gegen Gorynytsch und seine Drachenbrut gekämpft hatte.
Unterstützt von Gargyoles und deren Anführer Cyrano, von Truppen des Zaren, vom Officium Draconis und sogar von Drachen, die sie normalerweise abschlachtete, hatte sie einen Sieg errungen und verhindert, dass das magische Artefakt, der Weltenstein, in Gorynytschs Drachenklauen und die seiner Verbündeten geraten war.
Silena sah Arsénié Sàtra vor sich, das französische Medium, das sich zur Helferin des russischen Drachen gemacht hatte, um selbst an den Weltenstein zu gelangen. Auch sie war tot, verbrannt am Triglav.
Gestorben wie ich. Silena hatte die Gelegenheit genutzt und sich für tot erklären lassen. Grigorij war zu ihren Vorgesetzten gegangen und hatte von ihrem Tod berichtet sowie die notwendigen Beweise erbracht. Als Tote gehörte sie nicht länger dem Officium Draconis an, für das sie als letzte Nachfahrin des heiligen Georg die Geschuppten in der Luft gejagt hatte. Ihre Akte war damit für alle geschlossen. Die gelegentlich aufkommenden Zweifel, mit dieser List auch wirklich durchgekommen zu sein, verdrängte sie beharrlich.
Heimlich war sie im Zug mit ihrem Mann nach England aufgebrochen und als Anastasia Zadornova im Königreich Großbritannien angekommen, wo sie ihre eigene Drachenjäger-Einheit ins Leben gerufen hatte: die Skyguards.
Silena konnte trotz des Risikos, erkannt zu werden, schwere Verletzungen oder gar den Tod zu erleiden, nicht ohne das Fliegen und Jagen leben. Finanziert wurde ihr Vorhaben zum einen mit dem Erlös aus dem Verkauf der Drachenstücke, zum anderen mit dem Gewinn, den Grigorijs Transportunternehmen machte. Seine Zeppeline beförderten Fracht und Passagiere in der Alten Welt sowie über den Atlantik in die Vereinigten Staaten.
Ein gutes Leben. Silena bewegte den Kopf und sah auf den Stapel Briefe, den die Einheit erhalten hatte. Auch wenn sie einen eigenen Verwalter eingestellt hatte, sichtete sie jegliche Korrespondenz zuvor selbst. Was haben wir denn alles?
Sie öffnete und überflog die Schreiben, während sie von einem der Scones abbiss und Tee trank: Bewerbungen von Neulingen und einstigen Kampfpiloten des Weltkriegs, Deserteure aus den unterschiedlichsten Armeen Europas, die um eine Anstellung baten, und ein Brief mit dem Siegel von … »Großmeister Brieuc?«
Silena hörte vor Überraschung auf zu kauen. Ihre Vergangenheit beim Officium Draconis meldete sich einen Tag vor Heiligabend. Das klang gar nicht gut. Was kann er von mir wollen?
Sie riss den Umschlag auf.
Hochverehrte Mistress Anastasia Zadornova, Wäre ich ein Heuchler, müsste ich schreiben: Sieht man Sie auf den wenigen Bildern, die es von Ihnen gibt, könnte man wirklich dem Irrtum erliegen, dass Sie die Zwillingsschwester einer viel zu früh verstorbenen Großmeisterin seien. Silena war ihr Name, die letzte Nachfahrin des heiligen Georg.
Ich bin jedoch weit entfernt von dem, was man einen Heuchler nennt.
Und ich denke, wie übrigens alle im Officium Draconis, dass Sie es sind, Großmeisterin, die meinen Brief in Händen hält.
Silena wurde schlecht. Ihre Selbsttäuschung fand ein jähes Ende.
Sie spürte, dass die Scones ihr aufstießen und der letzte Schluck Tee gefährlich weit nach oben stieg. Grigorij hat mich oft genug gewarnt. Wäre es nach ihrem Gemahl gegangen, hätte sie die Einheit aus dem Hintergrund geleitet. Aber ich musste ja unbedingt fliegen!
Schnell las sie weiter.
Warum Sie damals unter Vortäuschung Ihres
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