Drachenkaiser
empfindlichen Nase entging keine peinigende Nuance. Dazu gesellten sich das unentwegte Getrappel der Schuhsohlen, die penetranten Stimmen, die schreckliche polternde Sprache. Auch das schrille Gelächter der kleinen Kinder und deren erstaunte Rufe verlangten ihm enorm viel Selbstbeherrschung ab.
Am liebsten hätte er die Gitter beiseitegestoßen und wäre über sie hergefallen: mit Hieben davongeschleudert, mit Schwanzschlägen zerschmettert, mit Tritten zermalmt und an seinen Klauen aufgespießt, damit er sie zappeln lassen konnte. Oh, wie gern hätte er das getan!
Bleib ruhig, sagte er zu sich selbst und schnaubte – was zur Folge hatte, dass wieder irgendwelche Kinder vor Schreck und Vergnügen aufkreischten.
Dann spürte er den sanften Einschlag eines weichen Gegenstandes über seinem linken Auge. Erneut hatte es jemand unter Ignorieren der Warnschilder gewagt, ihn zu bewerfen. Nie-Lung harrte aus und hoffte, dass einer der chinesischen Aufpasser einschritt.
»Nein, Ernst August! Lass das!«, vernahm er die strenge Stimme einer Frau. Er inhalierte ungewollt ihren Veilchenduft, der zusammen mit ihrem Atem zu ihm wehte.
In so etwas würde er nicht einmal beißen können. Der Geruch des Drachenfreundes haftete noch immer an seinen Nägeln. Menschen waren nicht nur widerlich, sie schmeckten auch noch ekelhaft. Wie gut, dass ich ihn nicht gefressen habe. Wer weiß, wo er sich überall herumgetrieben hat. Außerdem wird ihr Fleisch überschätzt.
»Aber Mama, das Drachenviech soll mal was machen«, verteidigte sich der Junge weinerlich, der gerade eben eine gebackene Banane mit Honig gegessen haben musste.
»Es hat geschnaubt. Reicht dir das nicht?«
Es sollte ihm reichen, wenn er sein Leben liebt, denn wenn ich mich bewege, ist die Wanze tot, dachte Nie-Lung. Wo sind die Aufpasser?
»Das kann auch … eine Attrappe sein, liebe Mama«, sagte Ernst August besserwisserisch. »Und sie haben ihr einen Blasebalg eingebaut, damit es echt aussieht.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Asiatische Drachen sind eben fauler.«
Nie-Lung bewunderte sich für seine Gelassenheit. Wir besitzen die Weisheit des Ostens, schäbige, dumme Menschenfrau. Er züngelte herablassend.
»Riechst du denn nicht, wie er stinkt, Mama? Das Viech ist bestimmt schon tot und verwest hier.«
Ich stinke nicht!
Nie-Lung hob das Lid und heftete den Blick auf Ernst August: ein dickliches Kind mit einem Topfhaarschnitt, auf dem eine Mütze saß, umgeben von einem marineblauen Mantel und mit schwarzen Schuhen an den
Füßen. In seinem rechten Mundwinkel hing noch etwas Honig.
Füßen. In seinem rechten Mundwinkel hing noch etwas Honig.
Ernst August machte einen Schritt nach hinten. »Der Drache hat etwas Böses zu mir gesagt!«
Die Frau mit dem einfachen schwarzweißen Kleid und dem alten Mantel darüber lachte und tätschelte seine Wange. »Nee, nee, der Lütt«, sagte sie. »Was du dir wieder für Sachen ausdenkst.«
Der Junge streifte ihre Hand zur Seite. Er langte in die Tasche und nahm eine Murmel hervor. Es war unstrittig, was er im Sinn hatte.
HINFORT, FETTE, HÄSSLICHE WURST! BIST DU NICHT AUGENBLICKLICH VERSCHWUNDEN, LASSE ICH DICH DEINEN EIGENEN MAGEN FRESSEN UND DEN DEINER MUTTER DAZU!, donnerte Nie-Lung. Seine Worte würden im Kopf des Jungen dröhnen, als wären sie der Schwengel in einer Glocke, während niemand sonst im Zelt diese Botschaft erhielt.
Ernst August schrie gellend, ließ die Murmel fallen und presste sich die Hände gegen die Ohren. Gegen die mentale Kraft des Drachen richtete er damit jedoch nichts aus. Unentwegt wimmernd und heulend ging er zurück, bis zum Eingang, von dem eben ein Chinese angelaufen kam. Seine Mutter folgte ihm; sie konnte ihn nicht beruhigen und schon gar nicht überzeugen, die Ohren freizugeben.
Das soll dir eine Lehre sein. Ich hätte dir ebenso deine Trommelfelle platzen lassen können. Sehr mit sich zufrieden, hob Nie-Lung auch das andere Lid, um zu sehen, wie die Menschen reagierten. Vielleicht sollte ich es sogar tun. Für die Tarnung wäre es besser gewesen, er hätte sich friedlich verhalten, doch sein Stolz verbot es ihm, eine derartige Schmähung unbeantwortet zu lassen.
Die etwa einhundert Personen, vom Mann bis zum Säugling, starrten Ernst August an, als habe er den Verstand verloren, und machten ihm Platz, damit er aus dem Zelt gehen konnte. Lediglich zehn Augenpaare schauten vorsichtig, ängstlich zu ihm. Offenbar wurde der Drache nicht direkt mit dem Vorfall in
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