Drachenkaiser
Todes gingen, kann ich mir denken: Die Auseinandersetzung mit Erzbischof Kattla über Ihre Zukunft und seine Erwartungen an Sie müssen daran schuld sein. Hierüber erlaube ich mir kein Urteil.
Der Grund, weswegen ich Ihnen schreibe, ist ein Appell, eine Bitte, ein Flehen – nennen Sie es, wie Sie möchten.
Lassen Sie mich jedoch zunächst unsere Lage erklären.
Der Glanz des Officium Draconis hat schwer nachgelassen, die Zeit der Heiligen scheint vorbei.
Es ist Ironie, dass die Unbefleckten am Triglav ins Gefecht zogen und starben, während die Aufrührer, Bonvivants und aufgeblasenen Angeber überlebt haben: Großmeister Ademar, der offen mit Drachenjägern zusammenarbeitet; Donatus sucht sich seine Bilder und Statuen noch immer aus Drachenhorten; und ich, dem man vorwirft, einen Landstrich in Valencia entvölkert zu haben, weil ich einen verwundeten Drachen entkommen ließ, der sich grausam an den Menschen rächte.
Uns schützt vor dem Ausschluss, dass das Officium über keine Alternative zu uns verfügt. Unsere Kinder sind noch nicht so weit.
Weitaus schwerer wiegt der Umstand, dass ein geheimer Kampf hinter den Kulissen entbrannt ist, und zwar zwischen Erzbischof Kattla und Prior Prokop über den Kurs des Officiums. Diese Lagerbildung schadet der Organisation und birgt Gefahren für Leib und Leben der Drachenheiligen. Ohne die Gargoyles aus der Zucht des Officiums wäre mancher Drache, gegen den ich zog, nicht zu besiegen gewesen.
Doch: Wir haben eine große Anzahl kriechender und laufender Drachenbrut erlegt!
In vielen Gegenden Europas sind sie nahezu ausgerottet, wie Sie gewiss im fernen Neu-Edinburgh vernommen haben. Für unsere Verdienste gab es bereits mehrere Auszeichnungen verschiedenster Königshäuser. Und des Papstes.
Es ist inzwischen schon so weit, dass es unter uns Drachenheiligen beinahe zu Wettläufen kommt, sobald ein Drache gesichtet wird. Auch die Konkurrenz mit den Drachenjägern hat an Heftigkeit zugenommen.
Aber ein echtes Mittel gegen die fliegenden Teufel fehlt uns – seitdem Sie gegangen sind, Großmeisterin. Einige Einheiten haben wir bereits durch deren Attacken verloren.
Also bitte ich Sie ohne das Wissen des Erzbischofs und des Priors, doch im Namen aller Drachenheiligen: Kehren Sie zurück!
Wir brauchen Sie und Ihre begnadete Kunst! Verhindern Sie, dass weitere tapfere Recken sterben, und schließen Sie unsere Reihen, auf dass wir die Drachen ausrotten!
Nur mit Ihrer Hilfe vermögen wir dies.
Wir finden eine Lösung für Ihre Wiederaufnahme.
Silena senkte das Schreiben. Sie zitterte vor Aufregung, ihr war kalt. Was soll ich tun?
Tausend Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf, warnten sie vor einer List, rieten ihr von einer Antwort ab, verlangten gleichzeitig, die einstigen Kampfgefährten nicht im Stich zu lassen. Die vielen Jahre beim Officium und ihre elterliche Erziehung hatten den Korpsgedanken und den Zusammenhalt geprägt. Hätte Erzbischof Kattla einen solchen Brief an sie gesandt, sie hätte ihn nicht einmal angefasst. Es konnte natürlich sein, dass Brieuc ihn im Auftrag von Kattla verfasst hatte …
Ich kann das nicht alleine entscheiden. Sie legte den Brief oben auf den Stapel mit wichtiger Korrespondenz, um ihn Grigorij sofort nach seiner Rückkehr zu zeigen.
Es klopfte an der Tür, wild und hektisch.
»Herein.« Silena hörte ihre eigene Stimme und fand, dass sie gereizt klang. Wie so oft in den letzten Wochen.
Ivana streckte den Kopf herein. »Madam, kommen Sie! Der Fürst, er … es ist… ein Überfall in der Stadt auf offener Straße…«
Nein! Silena sprang auf. »Wer? Was haben sie ihm angetan?«
Die Rekrutin sah verstört aus. »Ich weiß es nicht.« Sie senkte den Blick.
In Silena krampfte sich alles zusammen. Silena hetzte los, stieß Ivana grob zur Seite, die daraufhin gegen die Wand prallte und einen Schmerzenslaut von sich gab.
Es kümmerte Silena nicht.
II.
23. Dezember 1926, Freie Hansestadt Hamburg, Deutsches Kaiserreich
Nie-Lung hielt die Augen fest geschlossen und stellte sich in seinem Käfig schlafend, wie er es Wu Li angekündigt hatte.
Er wollte nichts sehen. Schlimm genug zu wissen, dass sie da sind. Er roch die vielen Menschen um sich herum mit allem, was sie hereinschleppten. Und es waren keine Gerüche, die er als angenehm empfand: feuchte Kleidung, fürchterliche Duftwässer, Schweiß in schrecklichen Varianten, klebrige Süßigkeiten und Frittiertes, Schnupftabak und Zigarettenqualm … Seiner
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