Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
kleine unterernährte Mann hockte wie ein Häufchen Elend auf seiner schäbigen Matratze und traute seinem Auge nicht. (Das andere hatte er leider verloren.)
    Er war an einem sozialen Brennpunkt Deutschlands gelandet, wohin ihn das Sozialamt verwiesen hatte, und auf einmal stand eine deutsche Mutti vor ihm und redete freundlich mit ihm auf Dari!
    »Nekmal, ich hätte da so einiges auf dem Herzen. Was ist? Wollen Sie nicht zu mir nach Bergfeld kommen? Sich erst einmal erholen, ausruhen, Sybilles leckere Süppchen essen?«
    Der Mann hatte ähnliche Verletzungen wie Dadgul und war ein verängstigtes, traumatisiertes Bündel Mensch. Der hatte mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Der Kerl war so schüchtern, dass er mir kaum ins Gesicht sehen konnte! Ich schnappte ihn mir, schulterte sein Bündel und schleppte ihn zum Bahnhof.
    »Kommen Sie mit! Ich tu Ihnen nichts!« Auf der Rolltreppe stand ihm die nackte Panik im Gesicht geschrieben. Ich hielt ihn unauffällig am Ärmel fest und lächelte ihn aufmunternd an. »Klappt schon! Geht doch! Kommen Sie! Wir schaffen den 14 Uhr 17 von Gleis fünf!«
    Der hielt mich bestimmt für eine Kriminalbeamtin oder Beamte von der Ausländerbehörde. Dabei war ich doch nur Sybille Schnehage aus Bergfeld!
    Im Abteil zweiter Klasse taute er vorsichtig auf, nahm sogar das Sandwich, das ich ihm anbot, und stopfte es sich hungrig in den fast zahnlosen Mund, wobei er mich taxierte wie ein Hund, der plötzlich von einem Fremden Zuwendung erfährt.
    Armer Kerl! Und vor so etwas hatten wir Deutschen so schreckliche Angst?
    Unsere Nachbarn in Bergfeld schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: »Die Helferhyäne hat sich einen Talibanhäuptling ins Haus geholt!« Frau Brechenmacher wollte schon die Polizei rufen: »Die tickt doch nicht mehr richtig! Nachher fliegt noch unser ganzes Dorf in die Luft!«
    Aber Micki meinte nur, solange Bergfeld durch das Gift ihrer boshaften Bemerkungen noch nicht in die Luft geflogen sei, werde es das durch die Ankunft eines harmlosen Talibanbruders auch nicht tun.
    Nekmal war erst fünfunddreißig Jahre alt und hatte wie mein Dadgul ein entsetzliches Schicksal unter den sowjetischen Kommunisten erlitten. Seine Form des Widerstands bestand in der Wiederherstellung der absoluten Gottesherrschaft (Talib heißt »Koranschüler« und ist grundsätzlich erst mal nichts Schlimmes). So wollte er Frieden und Ordnung wiederherstellen – notfalls auch mit Hilfe drastischer Maßnahmen. Mädchen, so erklärte mir der müde abgemagerte Gotteskrieger, dürften deshalb nicht zur Schule gehen, weil ihre Sicherheit gefährdet sei. Ihre Unschuld war wie gesagt gleichzusetzen mit Familienehre – und die war das Einzige, was die armen Afghanen noch hatten! Das galt auch für Lehrerinnen: Während des Krieges waren unzählige unschuldige Mädchen und Frauen aus ihren Häusern verschleppt und vergewaltigt worden. Damit war deren gesamte Familie entehrt. Das führte zu immer neuen Vergeltungsschlägen – ein Teufelskreis, der nur durch allerstrengste Regeln durchbrochen werden konnte: Durch äußerst strenge neue Auflagen und Kleidungsvorschriften, wie die Taliban sie aus dem Koran herauslasen. Natürlich ging auch der Schuss wieder nach hinten los: Die Taliban verboten jede Art von Musik, Tanz, Malerei, harmlose Vergnügungen wie Kino, Fernsehen, Zerstreuung jeder Art. Außer dem Koran war überhaupt keine Lektüre erlaubt.
    Für uns westliche Frauen war das schwer zu verstehen. Wer nur die Spitze des Eisbergs sah, winkte ab oder wurde hysterisch wie Frau Brechenmacher. Aber ich bemühte mich einfach, die Zusammenhänge und Ursachen zu begreifen. Ich versuchte, einem Land zu helfen, also musste ich auch versuchen, die Ursprünge seiner Gesetze und Glaubensregeln zu begreifen.
    Und jetzt, zwei Jahre nach meinem ersten Einreiseversuch in Afghanistan, war ich im Besitz eines gültigen Talibanvisums, ausgestellt mit zittriger Hand von Nekmal, meinem Gast und neuen Freund, der vierzehn Tage lang die Schnehage’sche Aufbaukost genossen hatte. Denn nur so konnte ich in mein Katachel gelangen und mein Projekt weiterführen. Meine Katacheler Mädels vertrauten mir, sie hatten ja nur mich.
    Diesmal lief meine Ankunft vollkommen anders ab. Dadgul holte mich ab, wir wurden von Taliban eskortiert, sprich, beschützt. Mit sechs vollbesetzten Jeeps begleitete man die »Deutsche Mutter« von Islamabad nach Afghanistan. Eine Mischung aus Aufregung, Stolz und Neugier erfüllte mich. Unsere

Weitere Kostenlose Bücher