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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Kleiner?«
    »Anwar«, sagte der Junge schüchtern.
    »Okay, Anwar. Du springst jetzt runter, und ich reiche dir die Steine.«
    Ungläubig starrte er mich an. Er war vielleicht fünfzehn, sechzehn. Ein unbedeutender kleiner Arbeiter, den Dadgul gnädig eingestellt hatte.
    Was für ein mieser Zug von Dadgul, den Kleinen allein schuften zu lassen. Hatte ich mich ihm gegenüber auch so wenig hilfsbereit gezeigt? Hallo? Zig Operationen in Stuttgart, über vier Jahre in unserem Haus? Zigtausend Mahlzeiten, die ich ihm püriert hatte? Wie oft hatte ich seinen ekligen Schlauch gereinigt? Und was hatte ich ihm alles beigebracht, damit er in seinem Katachel überhaupt weiterleben konnte?
    Jetzt war er der große Zampano. Und seine Frau Kandigol glich immer mehr einem Kandipil, einem Elefanten, so viel Kilo Wohlstandsspeck hatte sie sich angefressen. Sie kommandierte vier Hausangestellte und ließ sich und ihren verzogenen Sohn Tadjudin von vorn bis hinten bedienen. Wo war der Pascha Tadjudin überhaupt? Warum packte der nicht mit an?
    Nach etwa zwanzig Wackersteinen, die scharfkantig und sauschwer waren, platzte mir nicht nur die Haut an den Händen auf, sondern auch endgültig der Kragen.
    Zu Hause in Bergfeld hätte mein vorbildliches Handeln jeden Zuschauer sofort beschämt. Kein einziger Mensch, ob männlich oder weiblich, wäre feixend sitzen geblieben, auch Dadgul nicht. Er wäre gesprungen. Dadgul hatte mal Stil und Klasse gehabt. Er war ein richtiger Kavalier gewesen. Er hatte mir die Tür aufgehalten und mir in den Mantel geholfen, er war mein Chauffeur und Beschützer gewesen, mein Kamerad und Kollege, mein Helfer und Vertrauter. Aber hier in seinem Dorf, wo er sich im Kreise seiner Cousins stark fühlte, hatte er die Dreistigkeit, mir und dem kleinen Anwar beim Arbeiten zuzusehen.
    So, Bursche, jetzt reicht’s, dachte ich.
    Wütend sprang ich vom Laster und stürzte mich wie ein Habicht auf die Taugenichtse.
    Jedem versetzte ich einen ordentlichen Fußtritt.
    »Aua!«
    »Ich glaub, mein Pferd schielt!« Zitternd vor Wut drückte ich jedem einen Stein in die Hand. Eigentlich warf ich jedem von ihnen einen solchen Stein in den Schoß.
    »Dadgul, hab ich dich so erzogen?!«
    »Au! Meine Manneskraft! Spinnst du?!«
    »Ich zeig dir deine Manneskraft!«
    »Werd nicht gleich hysterisch, Schnehage!«
    Aha. Nicht mehr Mama, sondern Schnehage. Das sagte der nicht noch mal zu mir.
    »Frecher Kerl! Auf mit euch! Dadgul, ich schäme mich für dich!«
    »Ja, ja.« Dadgul erhob sich mühsam und verdrehte genervt die Augen. »Ist ja gut, Mama. Wechseljahre, oder was!«
    »Einen Scheißcharakter hast du, Dadgul«, schnauzte ich ihn an. Meine Wut wuchs. Auf einmal kam mir sogar der Verdacht, dass er das Gespräch mit meinem Freund, dem Malek, völlig falsch übersetzt hatte, damit ich meinen zweitbesten Freund verlor. (Falls Dadgul überhaupt noch mein bester war! Da hatte ich so meine Zweifel.)
    War Dadgul so ein mieser Kerl? Wollte er hier die Monopolstellung? War er so berechnend? Nach allem, was ich für ihn getan hatte?
    Und was nahm er sich für Frechheiten raus! »Wechseljahre!« Wo war sein Respekt geblieben?
    Schwitzend schuftete ich bis spät in die Nacht und weigerte mich, zum Abendessen zu kommen, so fett und kalorienreich »Kandipil« auch gekocht hatte.
    Schmollend verzog ich mich in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu.
    Als ich später noch einmal nach der Baumwolltrennmaschine schauen wollte, sah ich den armen Anwar im Gang liegen, als Matratze diente eine alte Düngertüte, als Kissen seine Plastiklatschen. Essen hatte er kaum bekommen, nur Sklavenarbeit hatte er verrichten müssen. Ohne mich wäre er jetzt immer noch dabei, während »Kandipil« und ihre Kinder längst im Bett lagen. So langsam dämmerte mir, dass die Menschen hier Angst vor Dadgul und seiner alle herumkommandieren Ehefrau hatten! Mich beschlich der hässliche Gedanke, dass ich daran nicht ganz unschuldig war. Anscheinend hatte ich sie viel zu sehr verwöhnt und Werte wie Hilfsbereitschaft, Empathie, soziales Denken und Handeln vorausgesetzt, die in meiner Familie selbstverständlich waren. Ich hatte sie mit Macht ausgestattet. Die sie mittlerweile zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten?
    »Dadgul, was bist du nur für ein jämmerlicher Arbeitgeber«, fluchte ich leise, während ich über den armen Anwar hinwegstieg. »Das wird noch Folgen haben.«
    Aber das war noch nicht alles.
    »Sag mal, Dadgul, wieso kann sich dein mächtiger Freund

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