Drachenläufer
Sonnenbrille trug wie einst John Lennon.
»Das scheint unser Mann zu sein«, sagte Farid.
Der Talib mit der schwarzen Sonnenbrille trat auf den Steinhaufen zu, den man aus dem dritten Pick-up ausgeladen hatte. Er griff sich einen Stein und zeigte ihn der Menge. Das Gekreische verstummte wie auf Kommando, dafür war jetzt nur noch ein seltsames Sirren zu hören, und als ich mich umschaute, stellte ich fest, dass alle ein höhnisches Schnalzen von sich gaben. Der Talib sah auf absurde Weise wie ein Baseball-Pitcher aus, als er den Stein auf den Mann mit der Augenbinde schleuderte. Der wurde seitlich am Kopf getroffen. Die Frau schrie wieder auf. »Oh!«, machte die Menge. Ich schloss die Augen und schlug die Hände vors Gesicht. Jeden Wurf des Henkers quittierten die Zuschauer mit einem lauten »oh!« Das ging eine Weile so weiter. Als sie verstummten, fragte ich Farid, ob es vorbei sei. Er sagte, nein. Vermutlich hatte sich die Menge nur müde gebrüllt. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mit zugekniffenen Augen dagesessen habe. Ich weiß nur noch, dass ich wieder aufblickte, als die Leute um mich herum fragten: »Mord? Mord?« Ist er tot?
Der Mann im Loch war entsetzlich zugerichtet; er schien nur noch aus Blut und Lumpen zu bestehen. Der Kopf hing schlaff vornüber. Daneben kauerte ein Mann, der ein Stethoskop in die Ohren geklemmt hatte und die Membran auf die Brust des Verurteilten gepresst hielt. Er wandte sich dann dem Mann mit der Lennon-Brille zu, nahm das Stethoskop ab und schüttelte den Kopf. Die Zuschauer stöhnten.
Der Henker trat wieder vor den Steinhaufen.
Als endlich die Hinrichtung vorbei und die blutigen Leichen - getrennt - auf die Ladeflächen der Pick-ups gehievt worden waren, rückten Männer mit Schaufeln an, um die Löcher zuzuschütten. Einer von ihnen versuchte vergeblich, die großen Blutlachen unkenntlich zu machen, indem er mit dem Fuß Erde darauf verteilte. Wenige Minuten später kehrten die Mannschaften aufs Spielfeld zurück. Die zweite Halbzeit wurde angepfiffen.
Unser Treffen sollte am selben Nachmittag um drei Uhr stattfinden. Dass diese Verabredung so schnell zustande gekommen war, hatte mich selbst überrascht. Ich hatte mit langwierigen Schwierigkeiten gerechnet, mit Befragungen und Ausweiskontrollen. Stattdessen zeigte sich mir wieder einmal, wie formlos selbst offizielle Angelegenheiten in Afghanistan abgewickelt wurden. Es genügte, einen der Peitsche schwingenden Taliban zu uns zu rufen und ihm zu sagen, dass wir den Mann in Weiß in einer persönlichen Sache zu sprechen wünschten. Farid erledigte das für mich. Der Mann mit der Peitsche nickte, rief dann einem jungen Mann auf dem Feld ein paar Wörter auf Paschto zu, die diesen auf den Talib mit der Sonnenbrille zueilen ließen, der noch hinter dem Tor stand und sich mit dem dicken Geistlichen unterhielt. Die drei sprachen miteinander. Ich sah, wie der Typ mit der Sonnenbrille zu uns hochblickte. Er nickte. Sagte dem Boten etwas ins Ohr. Der junge Mann leitete die Nachricht an uns weiter. Die Verabredung war perfekt. Drei Uhr.
22
Farid steuerte den Landcruiser in die Einfahrt eines großen Hauses im Wazir-Akbar-Khan-Viertel. Er parkte im Schatten der Weiden, die mit ihren Asten über die Mauern des Anwesens an der Sarak-e-Mehmana, der Straße der Gäste, hinausreichten. Wir blieben noch eine Weile im Wagen sitzen, lauschten dem Klick-klick des abkühlenden Motors und schwiegen. Farid rutschte auf seinem Platz hin und her und spielte mit den Schlüsseln, die noch im Zündschloss steckten. Ich sah ihm an, dass er mir etwas sagen wollte.
»Vielleicht sollte ich lieber im Auto warten«, sagte er schließlich, ohne mich anzuschauen und in einem Ton, der ein wenig nach Entschuldigung klang. »Das ist deine Angelegenheit. Ich ...«
Ich tätschelte seinen Arm. »Du hast schon sehr viel für mich getan, viel mehr, als ich erwartet habe. Du brauchst nicht mitzugehen.« In Wahrheit wäre mir seine Begleitung sehr lieb gewesen. Oder die von Baba. Trotz der Geschichten, die ich jüngst über ihn erfahren hatte, hätte ich ihn liebend gern an meiner Seite gehabt. Baba wäre einfach zur Tür hineingegangen, hätte verlangt, dem leitenden Beamten vorgestellt zu werden, und jedem, der sich ihm in den Weg gestellt hätte, auf den Bart gepinkelt. Aber Baba war längst tot, begraben auf dem für Afghanen reservierten Teil des kleinen Friedhofs in Hayward. Erst im vergangenen Monat hatten Soraya und ich ihm einen Strauß aus
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