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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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haben, die Babas Mitleid erregte. Es war einfach ungerecht. Hassan hatte nichts getan, um sich Babas Zuneigung zu verdienen; er war bloß mit dieser dummen Hasenscharte zur Welt gekommen.
    Die Operation verlief gut. Wir waren alle ein wenig erschrocken, als sie zum ersten Mal die Verbände abnahmen, lächelten aber tapfer weiter, ganz so, wie es uns Dr. Kumar aufgetragen hatte. Es war nicht leicht, denn Hassans Oberlippe war ein wüstes Gebilde aus geschwollenem, rohem Fleisch. Ich rechnete damit, dass Hassan vor Entsetzen aufschreien würde, als die Schwester ihm den Spiegel reichte. Ali hielt seine Hand, als Hassan einen langen, nachdenklichen Blick auf sein Abbild warf. Er flüsterte etwas, was ich nicht verstand. Ich legte mein Ohr an seinen Mund. Er flüsterte es erneut.
    »Tashakkor.« Danke.
    Dann verzogen sich seine Lippen, und dieses Mal wusste ich, was er tat. Er lächelte. Genau wie damals, als er aus dem Leib seiner Mutter herausgekommen war.
    Die Schwellung ließ nach, und mit der Zeit heilte die Wunde. Bald schon war nur noch eine rosafarbene, gezackte Linie zu sehen, die von seiner Lippe nach oben verlief. Im folgenden Winter war es nur noch eine blasse Narbe. Was eine gewisse Ironie in sich barg. Denn das war der Winter, in dem Hassan aufhörte zu lächeln.
    6
    Winter.
    Am Tag, wenn der erste Schnee fällt, vollziehe ich jedes Jahr ein Ritual: Ich trete am frühen Morgen im Schlafanzug aus dem Haus, die Arme gegen die Kälte um den Körper geschlungen. Ich betrachte die Auffahrt, den Wagen meines Vaters, die Mauern, die Bäume, die Dächer und die Hügel, die unter einer dicken Schneeschicht liegen. Ich lächle. Der Himmel ist makellos blau, der Schnee so weiß, dass meine Augen zu brennen beginnen. Ich schaufele eine Hand voll frischen Schnee in meinen Mund, lausche der gedämpften Stille, die nur von dem Krächzen der Krähen unterbrochen wird. Ich spaziere barfuß die Vordertreppe hinunter und rufe laut Hassans Namen, damit er kommt und es auch sieht.
    Der Winter war die Lieblingsjahreszeit der Kinder in Kabul - zumindest wenn ihre Väter es sich leisten konnten, einen guten Eisenofen zu kaufen. Der Grund war einfach: In der eiskalten Zeit blieb die Schule geschlossen. Winter bedeutete für mich das Ende langer Rechenaufgaben und der Pflicht, eine Antwort auf die Frage nach der Hauptstadt von Bulgarien parat zu haben, es bedeutete drei Monate lang Kartenspielen am Ofen mit Hassan, an jedem Dienstagmorgen freien Eintritt für die russischen Filme im Park-Kino und qurma aus Steckrüben auf Reis zum Mittagessen nach einem ganzen Morgen im Schnee.
    Und natürlich Drachen steigen lassen. Und hinter ihnen herjagen.
    Für ein paar bedauernswerte Kinder bedeutete der Winter nicht das Ende des Schuljahres. Es gab die so genannten freiwilligen Winterkurse. Kein Kind, das ich kannte, meldete sich jemals freiwillig, um an diesem Unterricht teilzunehmen; es waren natürlich die Eltern, die dazu anmeldeten. Glücklicherweise gehörte Baba nicht zu diesen Eltern. Ich erinnere mich noch an einen Jungen, Ahmad war sein Name, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Sein Vater war irgendein Doktor, glaube ich. Ahmad litt an Epilepsie und trug immer eine Wollweste und ein schwarzes Brillengestell mit dicken Gläsern. Er gehörte zu Assefs regelmäßigen Opfern. Jeden Morgen sah ich von meinem Fenster aus zu, wie der Hazara-Diener von Ahmads Familie den Schnee in der Einfahrt wegschaufelte, um den Weg für den schwarzen Opel frei zu machen. Ich wartete immer, bis Ahmad und sein Vater in den Wagen gestiegen waren, Ahmad in seine Wollweste und seinen Wintermantel gehüllt, die Schultasche gefüllt mit Büchern und Bleistiften. Ich sah ihnen nach, bis sie um die Ecke bogen, dann legte ich mich in meinem Flanellschlafanzug wieder ins Bett. Ich zog die Decke bis zum Kinn und betrachtete durch das Fenster die schneebedeckten Berge im Norden. Betrachtete sie, bis ich wieder einschlummerte.
    Ich liebte die Winterzeit in Kabul. Ich mochte es, wenn der Schnee nachts leise an mein Fenster klopfte, wenn der frische Schnee unter meinen schwarzen Gummistiefeln knirschte, wenn ein Feuer im gusseisernen Ofen brannte, während draußen der Wind durch die Gärten und Straßen pfiff. Aber am meisten mochte ich, dass das Eis zwischen Baba und mir ein wenig taute, wenn die Bäume und Straßen mit Schnee bedeckt waren. Und der Grund dafür waren die Drachen. Baba und ich lebten wohl im selben Haus, aber in unterschiedlichen Welten. Die

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