Drachenläufer
Gesicht er wohl unter dem Schleier im Spiegel gesehen hatte? Wessen mit Henna bemalte Hand er wohl gehalten hatte?
Gegen zwei Uhr morgens wechselte die Feier vom Bankettsaal zu Babas Wohnung. Wieder floss der Tee, und Musik spielte, bis die Nachbarn die Polizei riefen. Später in jener Nacht, als die Sonne nur noch eine Stunde vom Aufgang entfernt und die Gäste endlich gegangen waren, lagen Soraya und ich das erste Mal beieinander. Ich hatte mein ganzes Leben mit Männern verbracht. In jener Nacht entdeckte ich zum ersten Mal die Zärtlichkeit einer Frau.
Soraya war diejenige, die vorschlug, dass es das Beste wäre, wenn sie bei Baba und mir einzog.
»Ich dachte, es wäre dir lieber, wenn wir uns eine eigene Wohnung nehmen«, sagte ich.
»Wo Kaka jan so krank ist?«, erwiderte sie. Ihre Augen sagten mir, dass das nicht die richtige Weise war, eine Ehe zu beginnen. Ich küsste sie. »Ich danke dir.«
Soraya kümmerte sich hingebungsvoll um meinen Vater. Sie bereitete ihm am Morgen Toast und Tee zu und half ihm aus dem Bett. Sie verabreichte ihm seine Schmerzmittel, wusch seine Kleidung, las ihm jeden Nachmittag den internationalen Teil der Zeitung vor. Sie kochte ihm sein Lieblingsgericht, Kartoffel-snorwa, obwohl er kaum mehr als ein paar Löffel voll zu essen vermochte, und machte jeden Tag einen kleinen Spaziergang mit ihm um den Block. Und als er bettlägerig wurde, da drehte sie ihn jede Stunde auf die Seite, damit er sich nicht wund lag.
Eines Tages, als ich mit Babas Morphiumpillen aus der Apotheke nach Hause zurückkehrte und die Tür aufschloss, sah ich, wie Soraya schnell etwas unter Babas Decke schob. »Hej, das habe ich gesehen! Was macht ihr zwei denn da?«, sagte ich.
»Nichts«, erwiderte Soraya lächelnd.
»Lügnerin.« Ich hob Babas Decke an. »Was ist denn das?«, fragte ich, obwohl ich, als ich das in Leder gebundene Buch sah, wusste, was vor sich ging. Ich fuhr mit den Fingern über die mit Gold abgesteppten Kanten. Erinnerte mich an das Feuerwerk an jenem Abend, als Rahim Khan es mir geschenkt hatte. An den Abend meines dreizehnten Geburtstages. An die zischenden Raketen, die in roten, grünen und gelben Feuersträußen explodierten.
»Es ist unglaublich, wie du schreibst«, sagte Soraya.
Baba hob mühsam den Kopf vom Kissen. »Ich habe sie dazu angestiftet. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
Ich gab Soraya das Notizbuch zurück und verließ das Zimmer. Baba konnte es nicht ausstehen, wenn ich weinte.
Einen Monat nach der Hochzeit kamen die Taheris, General Sahib und Khanum Jamila, Sharif, seine Frau Suzy und mehrere von Sorayas Tanten zum Abendessen zu Besuch. Soraya bereitete sabzi challow zu - Reis mit Spinat und Lamm. Nach dem Essen tranken wir alle grünen Tee und spielten in Vierergruppen Karten. Soraya und ich spielten mit Sharif und Suzy am Couchtisch, neben dem Sofa, wo Baba unter einer Wolldecke lag. Er sah zu, wie ich mit Sharif scherzte, wie Soraya und ich die Finger ineinander schlangen, sah zu, wie ich ihr eine Locke, die sich gelöst hatte, aus dem Gesicht strich. Ich sah ihn innerlich lächeln, ein Lächeln, das an den weiten Nachthimmel Kabuls erinnerte, an die Nächte, wenn die Pappeln zitterten und der Gesang der Grillen in den Gärten ertönte.
Kurz vor Mitternacht bat uns Baba, ihm ins Bett zu helfen. Soraya und ich legten seine Arme um unsere Schultern und schlangen die unseren um seinen Rücken. Als wir ihn hingelegt hatten, bat er Soraya, die Nachttischlampe auszuschalten. Bat uns, uns vorzubeugen, und gab uns beiden einen Kuss.
»Ich komme später mit dem Morphium und einem Glas Wasser, Kaka jan«, sagte Soraya.
»Nicht heute Nacht«, sagte er. »Heute Nacht ist da kein Schmerz.«
»In Ordnung«, erwiderte sie. Sie zog ihm die Decke bis zum Kinn hoch. Wir schlossen die Tür.
Baba wachte nicht mehr auf.
Sie füllten die Parkplätze der Moschee in Hayward. Auf dem kahlen Rasenplatz hinter dem Gebäude parkten die Autos in engen, improvisierten Reihen. Die Leute mussten bis zu drei oder vier Straßenblöcke weit fahren, um einen Platz zu finden.
Der Teil der Moschee, der den Männern vorbehalten war, bestand aus einem großen, rechteckigen Raum, der mit afghanischen Teppichen und dünnen Matratzen bedeckt war, die in parallel angeordneten Reihen lagen. Männer kamen nacheinander herein, zogen am Eingang die Schuhe aus und setzten sich im Schneidersitz auf die Matratzen. Aus einem Lautsprecher ertönte der Sprechgesang eines Mullahs, der surahs aus dem
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