Drachenläufer
litt, die beinahe eine Woche lang anhielt. Wenn der Kopfschmerz kam, ging der General in sein Zimmer, zog sich aus, löschte das Licht, schloss die Tür ab und kam erst wieder heraus, wenn der Schmerz nachgelassen hatte. Niemandem war es erlaubt, das Zimmer zu betreten, niemand durfte klopfen. Irgendwann tauchte er mit verschwollenen, blutunterlaufenen Augen wieder auf, trug seinen grauen Anzug und roch nach Schlaf und Bettlaken. Ich erfuhr von Soraya, dass Khanum Taheri und er schon so lange sie sich erinnern konnte in getrennten Zimmern schliefen. Ich erfuhr, dass er manchmal kleinlich war, zum Beispiel, wenn er einen Bissen von dem qurma probierte, das seine Frau vor ihn hingestellt hatte, um dann einen Seufzer auszustoßen und es wegzuschieben. »Ich werde dir etwas anderes zubereiten«, sagte Khanum Taheri darauf für gewöhnlich, er aber ignorierte sie und aß schmollend Brot und Zwiebeln. Das machte Soraya wütend und brachte ihre Mutter zum Weinen. Soraya erklärte mir, dass er Antidepressiva nahm. Ich erfuhr, dass die Familie von der Fürsorge lebte und er in den USA noch kein einziges Mal versucht hatte, sich Arbeit zu suchen - er zog es vor, von der Regierung ausgestellte Schecks einzulösen, statt sich mit Arbeit zu erniedrigen, die für einen Mann von seinem Rang unangemessen war. Den Trödelmarkt betrachtete er als Hobby, als eine Möglichkeit, sich mit anderen Afghanen zu treffen. Der General glaubte, dass Afghanistan über kurz oder lang befreit und die Monarchie wieder hergestellt werden würde. Dann würde man auch seine Dienste wieder benötigen. Und so legte er jeden Tag seinen grauen Anzug an, zog seine Taschenuhr auf und wartete.
Ich erfuhr, dass Khanum Taheri - die ich jetzt Khala Jamila nannte - einmal in Kabul für ihre wundervolle Stimme berühmt gewesen war. Auch wenn sie das Singen nie zum Beruf gemacht hatte, hatte sie doch das Talent dazu gehabt. Ich erfuhr, dass sie Volkslieder singen konnte, ghazals, sogar raga, was für gewöhnlich eine Männerdomäne war. Aber sosehr der General die Musik auch liebte - er besaß eine beachtliche Sammlung von Aufnahmen klassischer ghazals, auf denen afghanische und Hindi-Sänger zu hören waren -, so war er doch der Ansicht, dass man das Singen besser denen überlassen sollte, die ein weniger hohes Ansehen genossen. Es war eine seiner Bedingungen vor der Hochzeit gewesen, dass seine Frau niemals in der Öffentlichkeit auftreten würde. Soraya erzählte mir, dass ihre Mutter sehr gern bei unserer Hochzeit gesungen hätte - ein einziges Lied nur -, dass der General ihr aber nur einen seiner Blicke zugeworfen hatte und die Angelegenheit damit erledigt gewesen war. Khala Jamila spielte einmal in der Woche Lotto und sah sich jeden Abend im Fernsehen Johnny Carson an. Sie verbrachte die Tage im Garten, kümmerte sich um ihre Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen.
Durch meine Hochzeit mit Soraya gerieten die Rosen, Geranien, Kartoffeln und Orchideen und Johnny Carson in den Hintergrund. Ich war die neue Freude in Khala Jamilas Leben. Im Gegensatz zum General mit seinem reservierten und diplomatischen Verhalten - er verbesserte mich nicht, als ich fortfuhr, ihn »General Sahib« zu nennen -machte Khala Jamila kein Geheimnis daraus, wie sehr sie mich anbetete. Zum einen lauschte ich ihrer eindrucksvollen Liste von Leiden, denen der General schon lange keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Soraya gestand mir, dass seit dem Schlaganfall ihrer Mutter jedes Flattern in ihrer Brust ein Herzanfall war, jedes schmerzende Gelenk chronischer Rheumatismus und jedes Zucken des Auges ein weiterer Schlaganfall. Ich weiß noch, wie Khala Jamila mir gegenüber das erste Mal einen Knoten im Nacken erwähnte. »Ich werde meine Seminare morgen schwänzen und dich zum Arzt fahren«, erklärte ich, woraufhin der General lächelte und sagte: »Dann kannst du dich gleich exmatrikulieren lassen, bachem. Das Krankenblatt deiner Khala ist wie das Werk von Rumi: Es umfasst mehrere Bände.«
Aber es lag nicht nur daran, dass sie ein Publikum für ihre Krankenmonologe gefunden hatte. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich, wenn ich nach einer Waffe gegriffen hätte und Amok gelaufen wäre, mir immer noch ihrer unerschütterlichen Liebe hätte sicher sein können. Denn ich hatte ihr Herz von seinem schwersten Leiden erlöst. Ich hatte ihr die größte Angst genommen, die eine afghanische Mutter haben kann: dass kein ehrenwerter khastegar um die Hand ihrer Tochter anhalten würde.
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