Drachenlord-Saga 01 - Der letzte Drachenlord
eisiger Schauer über den Rücken. Sie hatte niemals so kalte Augen gesehen. Ihr stockte der Atem. Es war, als wäre sie durchs Eis gebrochen und würde nun in klirrend kaltem Wasser ertrinken.
Mit einem Flüstern, das klang wie verwehendes totes Laub, sagte er: »Vergeßt nicht – Ihr tut dies für die Bruderschaß.« Dann ging auch er.
Sie taumelte zu ihrem Platz zurück und stürzte den restlichen Wein hinunter. Nun wußte sie es. Die Götter mochten ihr beistehen, sie wußte, was der Mann war. Trotz der Sommerhitze zitterte sie. Sie fragte sich, ob sie nicht zu gerissen gewesen war.
6. KAPITEL
Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Vorhängeschloß der Truhe schob. Wenn Beren sie hier entdeckte, war alles verloren. Jeder der Geladenen war bei dem Festball, in der Hoffnung, einen Blick auf die Drachenlords zu erhaschen. Es galt entweder jetzt oder nie.
Da! Das Schloß sprang auf. Lady Beryl öffnete die Truhe. Zu ihrer Bestürzung lagen darin unzählige Pergamentrollen. Oh, gütige Götter, würde sie jede einzelne überprüfen müssen?
Ein Geräusch im Flur ließ sie zusammenzucken. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und spürte darunter ihren rasenden Herzschlag. Aber das Geräusch wiederholte sich nicht, und niemand kam herein. Schließlich wurde ihr klar, daß sie wieder atmen konnte.
Dies war viel schwieriger, als sie angenommen hatte. Aber sie konnte die Sache niemand anderem anvertrauen. Es war zu wichtig. Dir Herr mußte die zusätzliche Zeit bekommen.
Sie hoffte nur, daß sie ihm nicht schadete; sie hatte ihren Plan nicht mit ihm abgesprochen. Sie sah wieder in die Truhe. Dieses Mal versuchte sie, logisch vorzugehen.
Wie sie sah, waren die Pergamentrollen mit verschiedenfarbigen Schleifen zusammengebunden. Aber nur eine trug eine Schleife von königlichem Rot. Die mußte es sein.
Vorsichtig nahm Beryl die Rolle auf, ihre Finger mit einem Stück Seide bedeckend, das sie eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte; wer wußte schon, welche Zauberkräfte die Drachenlords besaßen? Würden sie es spüren, falls sie tatsächlich das Pergament selbst berührte?
Sie schob das Schriftstück in einen ihrer langen Ärmel, zwischen Kleid und Unterkleid, und drückte es an den Körper.
Nun würde sie es an dem Ort verstecken, den sie vor Tagen ausgewählt hatte, einem Ort, den niemand finden würde.
Linden seufzte erleichtert. Der scheinbar nie enden wollende Ball war fast vorüber, und der letzte cassorische Adlige war ihm vorgestellt worden. Nun standen Kief, Tarlna und er auf einer Galerie, von der sie den großen Ballsaal unter ihnen überblicken konnten.
Linden hatte dergleichen noch nie gesehen. Galerien für Minnesänger hatte es selbst in der kleinen Burg seines Vaters gegeben. Aber er hatte noch nie von einer Galerie gehört, die den Ehrengästen vorbehalten war. Hier und dort standen kleine Rundtische mit bequemen Stühlen. Größere Tische hielten Erfrischungen bereit, so daß sich die Ehrengäste für Speisen und Getränke nicht nach unten bemühen mußten. Breite, weitgeschwungene Marmortreppen führten an beiden Enden der Galerie zur Tanzfläche hinunter.
Alles war sehr elegant: die kunstvollen Ornamente am Treppengeländer, die hellen Wandteppiche an den Granitwänden, die brennenden Fackeln in ihren goldenen Haltern.
Und sie hatten nicht einen ruhigen Augenblick.
Jedesmal, wenn er oder einer der anderen Drachenlords an die Balustrade trat, wuchs Lindens Sympathie für die Bestien in den Jahrmarktkäfigen. Die Hälfte der Leute schien direkt unter ihnen zu stehen und nur darauf zu warten, daß einer der Drachenlords hinuntersah. Selbst aus dieser Entfernung – und trotz der Musik – konnte er das Raunen hören, das sich jedesmal erhob, wenn einer von ihnen sich der Balustrade auch nur näherte. Mißmutig registrierte er, daß das Juchzen und Kichern allein ihm zu gelten schien. Während er wartete, bis der Diener seinen Kelch mit Wein gefüllt hatte, versuchte er zu entscheiden, ob er sich mehr wie ein dressierter Wolf oder eher wie ein Tanzbär vorkam.
Hört auf, so mürrisch zu schauen, sagte Kiefs Geiststimme.
Gereizt entgegnete Linden: Wieso? Ihr wärt auch nicht so gelassen, wenn man Euch so anstarren würde. Aber die Leute sehen, daß Ihr mit Tarina hier seid, und halten sich zurück. Es wäre nicht schlecht, wenn noch jemand dabei wäre, um sie ein wenig abzulenken.
Ich habe das auch durchgemacht, vor Tarinas Erster Verwandlung. Es wird Euch nicht
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