Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
er mit der Erde verschmölze. Sogar die Türme, die aus den Mauern aufragten, schienen sich ihrer Höhe zu schämen und sahen wie in die Breite aufgebläht aus. Dafür erstreckte sich rundherum eine schlichte, idyllisch anmutende Landschaft: Wiesen, die aus fettem, sorgfältig gepflegtem Gras bestanden; ab und zu ein Bäumchen – allesamt wie handverlesen, einer kräftiger als der andere, keiner war vertrocknet oder vom Wind gekrümmt; sogar die Hügel lagen wie geglättet da.
»Warum hast du mich als deinen Bruder ausgegeben?«, fragte Viktor. »Wir sehen uns doch überhaupt nicht ähnlich.«
»Warum? Wenn ich mir die Haare färben würde, könnten wir gut als Geschwister durchgehen … So ergibt es eine vernünftige Geschichte, Viktor. Man hat festgestellt, dass ich über eine gewisse Kraft verfüge, so was kommt häufiger vor. Deshalb begleitest du mich zu den Magiern, das passt alles tadellos zusammen. Du musst mich vor den Gefahren auf der Reise beschützen, und du kannst dich selbst, wenn möglich, in der Nähe der Magier niederlassen … Das wird keinem komisch vorkommen.«
»Und wenn sie dich auffordern, deine Kraft vorzuführen?«
»Dann führ ich sie eben vor.« Tel lachte. »Was denn? Denkst du, ich kann kein Erz oder Wasser in der Erde finden? Das ist doch ganz einfach. Alles, was sich einer im Selbststudium aneignen kann, bekomme ich mühelos hin.«
»Und das, was man im Selbststudium nicht lernt?«
»Wenn man sich ein bisschen anstrengt …« Tel wich der Frage aus. »Hauptsache, du behältst deine Kraft für dich, zeigst sie keinem. Ritor ist außer sich vor Wut, er sucht alles nach dir ab.«
»Warum verfolgt er mich so hartnäckig?«
»Er verfolgt sich selbst, Viktor. Er hat den Tag verflucht, als er zum Drachentöter wurde. Er glaubt, dass nur der Drache unsere Welt retten kann.«
»Bist du anderer Meinung?«
»Alles kann passieren.«
»Aber hat er Recht? Kommt der Drache wirklich?«
»Ja. Auch du musst auf seine Ankunft vorbereitet sein.«
Endlich erreichten sie die Stadt. Sie folgten der steinernen Mauer, bis sie zu einem Tor kamen, durch das die letzten, verspäteten Fuhrwerke Einlass in die Festung fanden.
An die zehn Soldaten in staubigen dunklen Umhängen und mit Degen an der Seite – einige trugen auch Gewehre über der Schulter – schickten jedem Gefährt ihre boshaften Kommentare hinterher.
Als Ersten traf es einen graubärtigen Alten, der eine ganze Karre voller Melonen vor sich her schob; ob der Dummkopf denn nicht wisse, dass alle treuen Vasallen der Erde ausreichend eigene Früchte und Gemüse hatten? Einen Bauerntölpel, der mit offenem Mund die dicken Mauern und mächtigen Tore anstaunte, überhäuften sie mit Spott. Einer Schar Mädchen in einem offenen Fuhrwerk, das von einer unansehnlichen, vertrockneten Alten gelenkt wurde, warfen sie jede Menge gesalzene – und wie Viktor fand, vollkommen überflüssige – Bemerkungen zu. Die Mädchen jedoch reagierten mit gutmütigem Gelächter, und das alte Weib parierte in einer Art und Weise, dass selbst die heldenmütigen Wachen hätten rot werden müssen. Über einen einzelnen Reiter – einen ganz jungen Kerl auf einer klapprigen Mähre mit gelblichem Fell – machten sie sich von hinten bis vorne lustig, angefangen bei seinem lächerlichen Hut bis hin zum altertümlichen Degen. Es war nur gut, dass der Junge, der ganz versunken in den Anblick der Türme war, nichts von ihrer Boshaftigkeit mitbekam.
Endlich kam die Reihe an Viktor und Tel.
»Wohin so eilig, Kleine?« Die Aufmerksamkeit der wachhabenden Soldaten hatte eine eindeutige Richtung eingeschlagen. »Wir sind doch viel lustiger als dein Kavalier!«
Viktor fasste automatisch an den Griff seines Schwertes, was die Soldaten mit einem Anfall schallenden Gelächters quittierten. Sie hatten offensichtlich die Absicht, sich auf verbale Annäherungsversuche zu beschränken, aber natürlich waren sie auch bereit, sich zu schlagen.
»Wehe, ihr beleidigt meine Schwester!«, rief Viktor, wobei er Tels Geschichte aufnahm. »Sie ist auf dem Weg zu den Magiern in Feros, um die Kraft zu erfassen!«
Augenblicklich machte sich ein gewisser Respekt auf den Gesichtern der Soldaten breit. Der Hauptmann der Wache, der einen mit Goldborte gesäumten Umhang trug, nickte einem Kameraden zu und sagte: »He, Rames, begleite die beiden bis zum Schloss des Fürsten!«
»Zu Befehl, Sergeant.« Ein groß gewachsener Mann mit einer Hakennase, der an einen Griechen oder Bulgaren
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