Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
Halbelfen, an das er sich aus irgendeinem Grund erinnerte.
»Es ist meine Aufgabe, denen zu helfen, die von der Anderen Seite hierherkommen«, sagte Tel. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich Viktors Stimmung verändert hatte. »Lass uns weitergehen. Dort hinter der Biegung liegt schon die Siedlung.«
Der Weg wand sich, beschrieb wieder eine Kurve um einen Hügel. Oder war das vielleicht kein Hügel, sondern ein Hügelgrab? In der Nacht schienen seine Konturen schon allzu gleichmäßig. Wie auch immer … Viktor hatte die Nase voll von Abenteuern. Seine gewöhnlichen Sorgen und Probleme
waren irgendwie verschwommen, weit weggerückt von ihm, und der Gedanke, dass er morgen nicht zur Arbeit gehen konnte, beunruhigte ihn rein gar nicht. Aber sein Zuhause – seine kleine Wohnung mit den sich ablösenden Tapeten, dem Fernseher und dem eingedrückten Sofa – ließ ihn nicht los. Dorthin wünschte er sich zurück. Auch wenn die Sicherungen sich wieder rausschraubten und das Telefon verbrannte. Wenigstens war es sein Zuhause. Seine Festung. Und er war nicht gezwungen, zwischen den Fingern seiner Faust die seidenweichen Haare eines elfischen Bastards zu spüren, während er diesem den Hals umdrehte …
»Teufel …«, flüsterte Viktor vor sich hin, »Teufel …«
So war das also. Es kam nicht gleich, nicht in dem Moment, wenn das Blut vor Adrenalin kochte und der Kehle ein tierischer Schrei entwich. Dann war alles möglich – töten, den Leichnam durchsuchen und fremde Vorräte verschlingen, während es nach brennendem Menschenfleisch stank. Erst später, in der Stille und Dunkelheit, krochen die erschrocken zurückgewichenen Jahrtausende der Zivilisation wieder herauf, klopften dir auf die Schulter und blickten dir vorwurfsvoll in die Augen.
Tel schwieg, selbst wenn sie verstanden haben sollte, was in ihm vorging. Zumindest dafür war er ihr dankbar. Sie verlangsamten ihre Schritte, während sie die Kuppe des Hügels überwanden – der Weg hatte die Windungen offenbar satt und verlief jetzt schnurgeradeaus.
»Da liegt die Siedlung«, sagte Tel.
Ganz in der Nähe, vielleicht in hundert Meter Entfernung, glommen matt einige Lichter. Viktor zögerte, er verspürte kurz ein unerwartetes Gefühl der Enttäuschung. Sie hatten nur noch wenige Minuten zu gehen.
»Ich dachte, wir müssten irgendwo rüberspringen … oder raufkraxeln«, gab er zu.
»Warum?«
»Ich weiß nicht …«
Unbewusst rechnete er damit, Hundegebell zu hören, aber während sie auf die Siedlung zugingen, blieb alles vollkommen still. Vielleicht gab es in dieser Welt keine Hunde? So wie es in der normalen Welt keine Elfen gab.
»Bleib stehen …« Tel hielt an und griff nach Viktors Hand, jemand kam ihnen entgegen.
Viktor umfasste mit der Hand den Griff des Messers. Der nächtliche Wanderer kam näher. Schweres Atmen und schleppende Schritte waren zu hören. Viktor entspannte sich.
Zumindest gab es Alkohol in dieser Welt.
»Nein … ich nehme nicht den kurzen Weg …«, vernahm er aus der Dunkelheit eine männliche Stimme. Entweder hatte der Mensch sie bemerkt, oder er redete mit sich selbst. »Nein … ich geh durch die Schlucht. Dort ist es dunkel, feucht und schrecklich … Dort sind die steilen Abhänge … dort pfeift der Wind!«
Was den Wind anging, täuschte der Mann sich, ansonsten konnte Viktor ihm nur zustimmen.
»Ich geh durch die Schlucht …«, wiederholte der Betrunkene melodisch sein Vorhaben. »Und mir geht’s wieder gut … ah … ich … werd … nü-nüchtern!«
Ohne sie zu bemerken, ging er an ihnen vorüber. Das Gesicht konnte Viktor nicht erkennen, aber er begriff, dass es sich um einen sehr kräftigen, groß gewachsenen Mann mit einem ordentlichen Bauch handelte. Als er schon an ihnen vorbei war, hielt er für einen Moment inne und sagte mit trauriger, verständnisloser Stimme und ohne jeden Zusammenhang: »Bleikugeln! Das muss sein!«
Viktor beugte sich zu Tel vor und flüsterte: »Sollten wir ihn nicht aufhalten? Er ist in einem solchen Zustand …«
»Gerade in einem solchen Zustand wird er ohne Schwierigkeiten ankommen«, antwortete Tel sorglos. »Betrunkene haben immer Glück. Und übrigens können die Toten den Geruch von Alkohol nicht ertragen.«
Viktor fragte nicht nach, warum die Toten Abstinenzler waren. Aus Angst, dass Tel wieder seltsame Erklärungen parat hatte und er wieder völlig unglaubliche Dinge würde glauben müssen …
Obwohl man meinen sollte, dass im Vergleich zur schieren Tatsache,
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