Drachenritter 02 - Der Drachenritter
Außenwelt, die im Mittelalter allein die Kirche zu bieten hatte.
Einen Moment lang fühlte er sich unerklärlicherweise hingezogen zu den Gestalten und den Gebäuden. Er hatte nicht das Zeug dazu, sich ihnen anzuschließen, aber zum erstenmal konnte er nachempfinden, was einen Menschen dieser Zeit dazu veranlassen mochte, der Welt den Rücken zu kehren und sich einer solch abgeschiedenen Zufluchtstätte anzuschließen, zu der die Kämpfe der Ritter, Prinzen und Dunklen Mächte keinen Zugang hatten.
Er konnte nicht anders. Er schaute zu, bis der letzte Mönch im Innern des Gebäudes verschwunden war, die Tür sich geschlossen und die Glocke aufgehört hatte zu läuten. Die aufgeblähte Sonne versank zu seiner Linken hinter dem Horizont. Er nahm die Abkürzung über die Felder bis zu der hinter dem Kloster abbiegenden Straße, die ihn wieder in die Außenwelt zurückführen würde.
Bald darauf hatte er die Straße erreicht und ging weiter auf die Stadt zu, die noch immer nicht zu sehen war. Eine Zeitlang hielt der gute Zustand der Straße an, doch dann kamen wieder Schlaglöcher und Furchen, und die Straße befand sich wieder in einem ebenso kläglichen Zustand wie zuvor.
21
Wenige Minuten, nachdem Jim das Kloster hinter sich gelassen hatte, führte ihn die Straße zu einer weiteren Ansammlung von Bäumen und auf eine weitläufige Lichtung; genaugenommen eine gerodete Lichtung von der Art, wie sie aus Gründen der Verteidigung allerorten um Burgen und andere Bauwerke herum anzutreffen war und hinter der Amboise vollständig sichtbar war.
Die Tore waren verschlossen.
Obwohl er damit gerechnet hatte, ärgerte er sich doch unwillkürlich über die Verzögerung, die sich daraus ergab. Da er aber nichts daran ändern konnte, wandte er sich zurück zur Straße, um sich einen Platz zum Übernachten zu suchen.
Hier standen die Bäume zu weit auseinander, als daß sie ihm Deckung oder sicheren Unterschlupf hätten bieten können. Jim ging bis hinter das Kloster zurück und drang dann in den Wald ein, der hier viel dichter war. Nachdem ihm mehrere Zweige ins Gesicht geschlagen waren und er über zahlreiche Wurzeln gestolpert war, kam er zu dem Schluß, daß er ebensogut jetzt gleich Drachengestalt annehmen konnte.
Anschließend kam er wesentlich leichter voran. Er fand sich nicht nur besser im Dunkeln zurecht, sondern verfügte auch über einen gesteigerten Geruchssinn, ein schärferes Gehör und eine Art animalisches Gespür für das Gelände, so daß er leichter in den Wald eindringen konnte. Mit seinem schweren Drachenkörper schob er sich einfach durch das Gebüsch und das Unterholz hindurch; er schaffte es nicht nur, die biegsamen Stämme der Schößlinge mühelos beiseite zu drücken, sondern es machte ihm auch nichts aus, wenn sie auf seine dicke, schuppige Haut zurückprallten. Zur Sicherheit entfernte er sich ein paar hundert Meter von der Straße und hielt gerade Ausschau nach einer passenden Höhlung, in der er sich zusammenrollen konnte, als er unvermittelt auf einen Felsen stieß.
Es handelte es sich um einen großen, rechteckigen Felsbrocken, der hochgekippt war, so daß er kaum dreißig Meter aus der Erde ragte. Der Fels selbst war vollständig kahl, mit Ausnahme des Fußes, wo Unkraut und kleine Büsche eine Umrandung bildeten, die an einen kreisförmigen Bart erinnerte. Als Drache wäre es ihm schwergefallen, auf den Felsen hinaufzuklettern. Jim suchte sich eine Stelle, wo er die Flügel ausbreiten, sich in die Luft emporschwingen und auf die Spitze des Felsens fliegen konnte.
Im nächsten Moment hatte er sie erreicht. Der Felsen überragte die Baumwipfel und war oben relativ eben – das hieß, er war eigentlich gar nicht eben, sondern wies eine flache Vertiefung auf, die wohl im Laufe der Zeit ausgewaschen worden war, so daß sie jetzt eine natürliche Schlafmulde bildete. Jim rollte sich darin zusammen.
Trotz der harten Unterlage aufgrund seiner zähen Drachenhaut bequem gebettet, blickte Jim schläfrig über die Bäume hinweg und richtete seinen teleskopischen Drachenblick auf die Stadt Amboise, in der bereits die ersten Lichter angingen. Die Dunkelheit und die Lichter hatten zur Folge, daß er meinte, die Stadt läge gleich zu Füßen des Felsens, auf den er sich gebettet hatte. Träge amüsierte er sich mit der Vorstellung, an einem Ort zu liegen, von wo aus er die Stadtmauer tatsächlich aus nächster Nähe überblicken konnte, als ihn vom Boden aus jemand ansprach.
»Was habt Ihr hier
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