Drachenritter 02 - Der Drachenritter
zu suchen?« fragte die Stimme.
Es war die Stimme eines Drachen.
Jim war auf einmal wieder hellwach und blickte nach unten. Trotz der Dunkelheit machte er eine geflügelte Gestalt aus, die sich etwa fünf Meter unterhalb von ihm an einem Vorsprung festhielt, etwa so, wie sich eine Fledermaus an einer rauhen Höhlenwand festklammerte.
»Und was macht Ihr hier?« erwiderte Jim.
»Das ist mein gutes Recht«, gab der nur undeutlich erkennbare Fremde zurück. »Ich bin ein französischer Drache. Und Ihr befindet Euch auf meinem Territorium.«
Jims Drachentemperament, das ebenso bereitwillig auf jede Herausforderung reagierte wie Brian oder Giles, wurde um ein paar Grade hitziger.
»Ich bin Gast Eures Landes«, sagte er. »Ich besitze einen Paß, der von zwei französischen Drachen namens Sorpil und Maigra akzeptiert worden ist…«
»Darüber wissen wir Bescheid«, setzte der andere Drache an. Jim unterbrach seinen Unterbrecher.
»Und deshalb kann ich mich ungehindert in Eurem Land bewegen. Ich brauche Euch nicht zu sagen, was ich hier tue. Das geht nur mich etwas an. Wer seid Ihr eigentlich?«
»Das tut nichts zur Sache«, antwortete der andere. Seine oder ihre Stimme war merklich höher als Jims, und soweit Jim erkennen konnte, war er oder sie auch erheblich kleiner als er. »Es versteht sich wohl von selbst, daß ein französischer Drache wissen möchte, was Ihr in dieser Gegend zu suchen habt.«
»Das mag schon sein«, erwiderte Jim, »aber ich fürchte, ein französischer Drache, der eine solche Wißbegier zeigt, wird sich wohl damit abfinden müssen, daß sie nicht gestillt werden wird. Wie ich schon sagte, das geht nur mich etwas an – und niemanden sonst. ›Niemand sonst‹ schließt Euch mit ein.«
Es entstand ein langes Schweigen. Jim wartete darauf, daß der fremde Drache etwas sagen oder unternehmen würde, und nahm sich vor, sich in dem Moment, da der Fremde noch eine zudringliche Frage stellte, von der Spitze des Felsens auf den Störenfried zu stürzen.
Soweit sollte es jedoch nicht kommen.
»Es wird Euch noch leid tun, daß Ihr so unhöflich seid und uns nichts sagen wollt. Ihr werdet schon sehen!« meinte der andere abschließend. Er schlug mit den Flügeln und entschwand in der Nacht.
Es dauerte eine Weile, bis Jim sich wieder beruhigt hatte. Seine Drachenemotionen waren weniger leicht zu besänftigen als die Gefühle eines Menschen. Um sich von der Unterhaltung abzulenken, wollte er sich wieder auf Amboise konzentrieren, doch gab das nach wie vor wirksame Adrenalin seinen Gedanken eine andere Richtung.
Auf einmal stellte er sich vor, wie er als Drache auf diesem Felsen hockte, der weniger ein sicherer Zufluchtsort als vielmehr für einen Angriff hervorragend geeignet war. Ein Ort, der wie geschaffen dafür war, rasch in die Stadt hinunterzustoßen und sich einen kleinen, plumpen Georg zu schnappen, um sich anschließend an ihm gütlich zu tun.
Dieser schockierende Gedanke brachte ihn wieder zur Besinnung. Bis jetzt hatte er noch nie ernstlich erwogen, daß George den Drachen oder gar ihm in Drachengestalt als Nahrung dienen könnten. Im Grunde war er überzeugt davon, daß er es nicht über sich bringen würde, einen Menschen zu verzehren. Als Drache hatte er allerdings schon des öfteren frisch geschlachtete, vollkommen rohe Tiere gegessen – samt den Innereien, aber mit Ausnahme der Hufe und Knochen – und sie ausgesprochen schmackhaft gefunden. Der einzige Grund, weshalb Drachen heutzutage keine George mehr fraßen, war wahrscheinlich der, daß sie sich dadurch bloß Ärger eingehandelt hätten.
Vor allem war den Drachen daran gelegen, sich das Leben so leicht wie möglich zu machen. Zwar hatten sie auch Spaß an einem guten Kampf, wenn sie erst einmal darin verwickelt waren, doch für gewöhnlich waren sie zu bequem, um Streit zu suchen. Zudem hatten sie im Laufe der Jahrhunderte einen gesunden Respekt vor Georgen entwickelt, und zwar noch vor der Zeit der berittenen und lanzenbewehrten Ritter. Außerdem gab es zu viele George.
Allmählich wurde Jim wieder schläfrig. Auch dies war typisch für Drachen. Drachen tranken gern, aßen gern und schliefen gern. Gab es nichts zu essen und zu trinken, stellte sich der Schlaf ganz von selbst ein. Über diesem Gedanken schloß Jim die Augen und schlief ein.
Er erwachte von den ersten Strahlen der Morgensonne, was kaum erstaunlich war, da er von dem Felsen aus freie Sicht auf den östlichen Horizont mit der Stadt im Vordergrund hatte, wo
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