Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
antike Geschlechter, den Kampf um die Weltherrschaft. Das war der rote Faden, der sie fast alle miteinander verband.
» Ich hätte nicht gedacht, dass Ihnen auch diese Geschichten gefallen, die ich so gerne lese«, hatte sie einmal bemerkt.
» Als da wären?«, hatte Professor Schlafen geantwortet, wobei er sie aus den Augenwinkeln anschaute.
» Na ja, so Fantasygeschichten, Bücher, in denen es um Magie und solche Sachen geht …«
Der Professor schmunzelte. » Das ist keine Magie, Sofia. Das ist Geschichte.«
Jeden Abend gab er ihr Texte zum Lesen mit und hörte sie am nächsten Morgen ab. Sofia gefielen die Bücher, auch wenn die Sprache manchmal etwas hochgestochen und schwülstig klang. Am schönsten war aber, dass sie abends so lange im Bett lesen konnte wie sie wollte, ohne ständig fürchten zu müssen, bei etwas Verbotenem ertappt zu werden.
Nach dem Mittagessen lernte sie Astronomie, Mythologie und Botanik. Sofia kam sich eigentlich nicht wie eine Assistentin, sondern vielmehr wie eine richtige Schülerin vor. Bücher an ihren Platz zu räumen, Texte abschreiben, notieren, was der Professor ihr erzählte – all das war nur ein Vorwand, um ihr etwas beizubringen. Wozu das alles, war ihr allerdings nicht so recht klar.
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang weckte der Professor sie zu einem absonderlichen Ritual, das Sofia beim ersten Mal richtig schockiert hatte. Und zwar fanden sie sich zu dritt, noch verschlafen und im Pyjama, vor dem Baum ein, der durch das Haus wuchs. Der Diener hatte für Milch und Rosinenbrot gesorgt, die er seinem Herrn reichte. Professor Schlafen kniete vor der Eiche nieder und betete: » Zum Gedenken an die süßen, verlorenen Früchte des Weltenbaums …«
Natürlich wusste Sofia nicht, was es mit diesem Gebet auf sich hatte und ebenso wenig, weshalb es allmorgendlich gesprochen werden musste. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht in eine dieser verrückten Sekten geraten war, von denen man immer wieder in der Zeitung lesen konnte, und dass es kein Entkommen mehr für sie gab.
Dann aber erklärte ihr der Professor, was es mit der Zeremonie auf sich hatte.
» Du hast dich sicher über unsere morgendliche Feier gewundert«, begann er.
Sofia errötete bis zu den Haarwurzeln.
» Der Weltenbaum trägt das Himmelsgewölbe und wurzelt in der Hölle. Und der Hahn in seiner Krone wird das Ende der Welt verkünden. So heißt es in den altnordischen Sagen«, sagte er ihr mit ernster Miene. » Jede Pflanze, jede lebendige Kreatur verdankt dem Weltenbaum ihr Leben. Und wir danken täglich dem Wald, der uns umgibt, und speziell diesem Baum, dem wahren Herrn dieses Ortes, und mit ihm dem Weltenbaum. Nimm es einfach so: Es ist eine Art Tribut an die Sagen meiner Vorfahren.«
Doch Sofia kam das alles immer noch verdächtig vor. Nun gut, Traditionen sollte man achten, dachte sie sich, aber muss man deswegen gleich mit den Pflanzen reden? Und Pflanzen besaß der Professor mehr als genug. Er zog sie in einem Gewächshaus gleich nebenan: größtenteils tropische Pflanzen, aber auch Kakteen und eine herrliche Orchideensammlung. Einmal hatte sie ihn durch die Glaswände beobachtet und mitbekommen, wie er hier und dort bestimmten Gewächsen etwas zumurmelte, auf Deutsch, was sie nicht verstehen konnte. Es war eine Art melodiöser, fast hypnotisierender Singsang, der sich für Sofia höchst merkwürdig anhörte. Am unglaublichsten aber war, dass die Pflanzen ihm diese Zuwendung zu danken schienen. Alle gediehen üppig, und fast sah es so aus, als würden sie sich beim Klang seiner Worte zu ihm hochrecken. Als der Professor ihr die Aufgabe übertrug, sich auch ein wenig um das Gewächshaus zu kümmern, war Sofia gar nicht glücklich darüber. Vom Gärtnern hatte sie keine Ahnung, und irgendwie dachte sie, die Pflanzen würden sie ablehnen. Tatsächlich aber erwies sie sich als außerordentlich begabt, und irgendwann tat sie es sogar dem Professor nach, sprach sie mit Namen an und unterhielt sich mit ihnen. Nicht dass die Pflanzen nun noch prachtvoller gediehen, doch es war ihr wichtig, sich den Gepflogenheiten ihrer neuen Familie anzupassen, mochten sie noch so merkwürdig sein. Das war sie ihrem Vormund schuldig. Zweifellos war er ein wenig wunderlich, aber schließlich hatte er sich für sie entschieden, hatte sie bei sich aufgenommen und aus dem Waisenhaus erlöst. Außerdem schien er sich nie über sie zu ärgern, sondern zeigte sich immer geduldig und freundlich, auch wenn sie zusammen
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