Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
in vollem Gange, allerdings gibt es noch keine Spur. Verlautbarungen zufolge ist von Feinden des Waisenhauses oder einzelner Bewohner nichts bekannt.
Die Miene des Professors wurde immer ernster, während er aufmerksam den Artikel las. Sofia wusste nicht, was sie sagen sollte. Bilder vom Waisenhaus gingen ihr durch den Kopf, ein Ort, an dem trotz allem noch ihr Herz hing, denn schließlich war er lange Jahre das einzige Zuhause gewesen, das ihr das Schicksal zugestanden hatte. Bilder der Verwüstung überlagerten nun diese Erinnerung und jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Ob Giovanna wohlauf war? Und Schwester Prudenzia? Wie hatten sie das alles überstanden?
» Das war bestimmt wieder irgend so ein Übergeschnappter«, brummte der Professor, doch seine Miene sprach eine ganz andere Sprache.
» Wieso? Giacomo behauptet doch, den Täter gesehen zu haben. Und ich glaube nicht, dass er lügt, so wie ich Giacomo kenne«, wunderte sich Sofia.
Der Professor lächelte väterlich. » Hältst du es denn auch für möglich, dass es geflügelte Jungen gibt?«
Sofia ärgerte sich über den leicht spöttischen Ton des Professors. » Nein, natürlich nicht, aber seltsam ist es schon. Vielleicht hat man Giacomo irgendetwas eingeflößt, eine Droge oder so was.«
Der Professor warf noch einmal einen raschen Blick auf die Zeitung. » Ach was, das glaube ich nicht. Es war nur der Schock, du wirst sehen …«
Die Bemerkungen des Professors kamen Sofia seltsam ausweichend vor, und die völlige Sorglosigkeit in seiner Stimme verstärkte nur Sofias Angst, anstatt sie zu vertreiben. » Aber genau das spricht doch dafür, dass wirklich etwas Schlimmes passiert ist. Giacomo ist tough, den haut so leicht nichts um … Nein, ich habe ein ungutes Gefühl, eine Vorahnung … Ich muss da hin«, schloss sie. » Ich muss wissen, ob es allen gut geht.«
Der Professor blickte sie streng an. » Der letzte Bus ist längst fort … Und gleich ist es stockdunkel.«
» Dann eben morgen. Oder ich rufe wenigstens an. Das Waisenhaus war doch so etwas wie meine Familie, Professor …« Sofia spürte den Geschmack von Tränen in der Kehle.
Der Professor ließ sich erweichen. » Morgen kann Thomas dich zur Bar bringen. Von dort rufst du an und erkundigst dich.«
» Warum nicht gleich? So weit ist das doch nicht …«
» Nein.«
Dieses entschiedene Nein ließ Sofia augenblicklich erstarren. Noch nie hatte er so mit ihr gesprochen.
Der Professor schien ihren Schreck zu bemerken, denn auf der Stelle veränderte sich seine Miene. » Nein, lieber nicht. Ihr müsstet dann doch in der Dunkelheit durch den Wald und das wäre zu gefährlich. Ich würde mir Sorgen machen, selbst wenn Thomas dich begleitet.«
Sofia stöhnte leise. » Ja, schon … Aber ich hab wirklich so ein schlechtes Gefühl. Was, wenn der Täter noch mal wiederkommt? Wenn er ihnen tatsächlich etwas antut …?«
Der Professor stand auf. Er hatte wieder diese wohlwollend tröstliche Miene aufgesetzt, die Sofia zu lieben begonnen hatte. » Mach dir keine Gedanken. In der Zeitung steht ja überhaupt nichts von Verletzten, nur von Sachschäden. Ich verstehe deine Sorge, Sofia, doch deine Freunde sind bestimmt alle wohlauf, da kannst du ganz sicher sein. Sie werden nur einen Mordsschreck bekommen haben. Das waren irgendwelche Taugenichtse, so etwas kommt ja leider immer wieder vor, nicht wahr? Und außerdem kümmert sich schon die Polizei um den Fall. Die haben jetzt ein Auge auf das Waisenhaus, dort wird niemandem etwas passieren. Das war ein dummer Streich, mehr nicht. Gleich morgen nach dem Aufstehen kannst du mit Thomas los und deinen Anruf erledigen. Oder wann immer du willst. Einverstanden?«
Er zwinkerte ihr zu, und Sofia bemühte sich, wenigstens mit einem kleinen Lächeln zu antworten. Das konnte ihre Sorgen zwar nicht zerstreuen, doch war sie froh, jetzt so jemanden wie den Professor zu haben, der zumindest versuchte, sie zu trösten. Morgen. Morgen würden sie anrufen. Morgen, in aller Frühe.
» Danke …«
» Wofür? Ich freue mich doch auch, wenn du dich besser fühlst.«
Sofia nickte.
» Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, beendete der Professor das Gespräch. » Bis morgen hältst du es sicher noch aus.«
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, wurde die Miene von Professor Schlafen wieder ernst und angespannt. Mit einem Glöckchen läutete er nach Thomas. Solange er wartete – nur wenige Sekunden –, heftete er den Blick auf den alles beherrschenden Baum in
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