Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
anbieten? Oder ein Hühnerbeinchen!«
»Das wäre ja Kannibalismus in meiner jetzigen Gestalt!« Dem Papageien sträubten sich die Nackenfedern.
»Warum verwandelst du dich nicht in einen Menschen zurück? Deine Stimme würde auch angenehmer klingen!«
»Das ist keine gute Idee, Ma Che! Siehst du nicht, dass sich in der Tür ein Guckloch befindet? Und du hast noch nicht einmal den inneren Riegel vorgelegt! Was glaubst du, was die Hohe Frau Waja Gura Waradem davon halten würde, wenn du hier in den Gemächern der zukünftigen Gemahlin Avids plötzlich mit einem nackten Mann am Tisch sitzen würdest?«
»Oh! Wieso nackt?«
»Warum können Papageien nur nicht seufzen! Arr!« Die Nackenfedern des Vogels stellten sich noch weiter auf. »Kleider, meine Liebe, gehören nicht zu der ursprünglichen Grundausstattung von Menschen. Denk nach, Ma Che, Vögel haben Federn, Drachen haben Schuppen und Menschen – nichts als nackte Haut!«
Janica kicherte ein wenig verlegen, wurde aber gleich wieder ernst.
»Also, Kana-Tu im bunten Vogel, was willst du hier? Wenn du jetzt sagst, dass du mich auch in einen solchen Papageien verwandelst und mich mit nach draußen in die Freiheit nimmst, werde ich vor lauter Dankbarkeit vor dir auf die Knie fallen. Wenn du mich allerdings nur vollsäuseln willst, kannst du mir gestohlen bleiben!«
»Es steht nicht in meiner Macht, dich zu verwandeln. Ich würde es, wenn ich es denn könnte, auch nicht tun. Das Schicksal darf man nicht herausfordern!«
»Dann lass mich in Ruhe!« Janica warf einen Apfel nach dem Papageien, der dem Geschoss geschickt auswich und sein Gefieder ausschüttelte.
»Ma Che, du wirst es nicht glauben, aber ich wollte dich schlicht und einfach noch einmal sehen, bevor ich mit Onkel Kajim zurückfliege in die Nordberge. Du hast Glück gehabt, dass der Sultan dich an Avid gegeben hat. Er ist ein guter Mensch, im Gegensatz zu seinem Bruder Anadid. Wenn du Avid nicht vor den Kopf stößt, wirst du ein gutes Leben haben, ein besseres als für dich vorgesehen war. Solltest du nicht den ältesten Sohn des Nordherrschers heiraten? Den kenne ich zufällig, das ist ein ganz widerlicher Bursche ...«
Ein zweiter Apfel flog in Richtung des Vogels, diesmal hätte Janica fast getroffen. Kana-Tu machte auf seinen Papageienfüßen einen erschrockenen Satz zur Seite.
»Arr! Ma Che, du bist nicht nett zu deinem Besucher! Und jetzt – lass’ es dir gut ergehen!« Das Tier breitete die Schwingen, und mit nur einem Flügelschlag hatte es das Fenstergitter erreicht, schob sich durch die eisernen Ranken und flatterte davon.
»Mistvogel!«, rief Janica ihm nach, dann schnäuzte sie sich in ihre schöne safrangelbe Schärpe. Sie war froh, dass sie die Tränen so lange hatte zurückhalten können, bis dieser Papagei das Weite gesucht hatte. Aber jetzt rollten ihr salzige Zähren über die Wangen. Janica leckte sie mit der Zungenspitze ab. Sollte er doch fliegen, dieser ..., dieser ..., ach, ihr fiel einfach kein passender Ausdruck für Kana-Tu ein! Sie goss sich puren Wein in den Becher und nahm einen kräftigen Schluck davon. Das leise Geräusch an der Tür überhörte sie.
»Ich dachte schon, die Kleine ist verrückt geworden und führt Selbstgespräche!« Waja schob die kleine Klappe über dem Sichtfenster in der Tür wieder zu. La’ad, gestützt auf seinen Speer, nickte zustimmend.
»Nein, ganz so schlimm ist es nicht, sie schwatzt da drin mit einem Papageien. Der Vogel ist sicher der Voliere meines Bruders entkommen und hat hier Unterschlupf gesucht. Hoffentlich ist es nicht gerade jener unverschämte Vogel, dem Anadid diese ganzen schrecklichen Schimpfworte beigebracht hat! Das Mädchen ist sicher einsam und verstört, das kann man ihm nicht verdenken. Fremde Menschen, eine fremde Umgebung, und dazu noch die Ungewissheit, was jetzt passieren wird! Aber da können wir ihr nicht helfen! Was meinst du, wird Avid sie heiraten?«
La’ad nickte wieder eifrig.
»Hätten wir ihr Innas Äffchen geben sollen, damit sie etwas Gesellschaft hat?«
Der alte Haremswächter verzog sein Gesicht zu einer Grimasse angesichts dieser letzten rhetorischen Frage Wajas. Und er schüttelte diesmal heftig den Kopf.
»Du hast ja recht, La’ad! Das kleine Biest beißt alle außer Inna. Jetzt geh’ schlafen, du treue Seele! Es ist reichlich übertrieben, eine verriegelte Tür innerhalb des Harems zu bewachen! Die Kleine wird schon nicht verschwinden, sie hat ja keine Flügel!«
16.Kapitel:
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