Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
Elfentee
Stoisch setzten die Pferde Huf vor Huf. Es war ganz gut, dass sich die Tiere nicht zu einer schnelleren Gangart bewegen ließen. Gerun war es nicht gewohnt, lange auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Außerdem war der Sattel alt und rissig. Die Innenseiten von Geruns Oberschenkeln fühlten sich an, als hätte sie in Nesseln gelegen, und ihr Rückgrat spürte sie schon längst nicht mehr.
Besorgt beobachtete die junge Frau Nadif, der vor ihr ritt. Schon mehrmals hatte sie gesehen, wie er im Sattel schwankte und sich nur mit äußerster Willenskraft aufrecht hielt. Es musste ihm sehr schlecht gehen. Diese verdammten Männer! Warum gaben sie nur nie, aber auch wirklich niemals eine Schwäche zu? Nadif würde überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, eine Rast einzulegen!
»Nadif! Ich habe Hunger! Lass’ uns einen Imbiss einnehmen!« Gerun hatte lange überlegt, mit welchen Worten sie Nadif bewegen konnte, innezuhalten. In sturer Gehorsamkeit wollte er so rasch als möglich das Westliche Königreich verlassen. Es schien Gerun besser, Begriffe wie »Ausruhen« und »Rast« zu vermeiden. Tatsächlich zügelte Nadif seinen Gaul etwas, um jetzt neben Gerun zu reiten.
»Wir sind noch nicht weit gekommen!«, sagte er. Das hatte die junge Frau durchaus selbst bemerkt, aber sie schwieg. Der Glanz in Nadifs Augen sagte ihr, dass das Fieber von ihm Besitz ergriff. Die Brandwunde in seinem Gesicht nässte und wirkte wulstig und aufgequollen. Gerun hatte schon genug Menschen an weitaus weniger großen und an sich harmlos wirkenden Wunden sterben sehen. Sie biss sich auf die Lippe, um sich von dem Gedanken an ihre Mutter abzulenken. Geruns Mutter hatte sich die Handfläche am Sensenblatt aufgerissen, eine Lappalie, mochte man meinen. Die Frau hatte sich einen Lappen um die Finger gebunden und hatte weitergearbeitet. Am nächsten Tag war die Hand rot und dick gewesen, dann kam das Fieber und schließlich der Tod. Um Gerun versorgt zu wissen, hatte ihr Vater sie zum Dienst in das Königsschloss gegeben. Da war sie acht Jahre alt gewesen. Sie hatte nie wieder von ihrem Vater oder ihren Geschwistern gehört, wusste nicht einmal, ob sie noch lebten. Der Gedanke, nach ihrer Familie zu suchen und um Aufnahme zu bitten, huschte ihr auch nur für einen kurzen Wimpernschlag lang durch den Kopf. Nein, nach all dem, was in der letzten Nacht und am Morgen geschehen war, war sie auf Gedeih und Verderb an Nadif gekettet. Sie musste dafür sorgen, dass er überlebte!
»Dort vorn vor dem Wald gibt es einen Bach, dort werden wir eine kurze Rast einlegen, die Pferde tränken und selbst etwas essen!« Nadif versuchte sich an einem Lächeln. Die Grimasse, die er dabei zog, hätte einem Geist der Unterwelt zur Ehre gereicht, aber Gerun lächelte zurück. Die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu. Sie musste dafür sorgen, dass aus der angekündigten kurzen Rast eine lange Nachtruhe werden würde.
Nadif gab sich alle Mühe, vor Gerun keine Schwäche zu zeigen, aber als er sich vom Pferd schwang, trugen ihn seine Beine nicht mehr. Er fiel auf die Knie und stützte sich mit beiden Händen ab.
»Es geht gleich wieder!«, murmelte er. Gerun seufzte ungläubig und glitt selbst aus dem Sattel. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als sich ihre aufgeriebenen Schenkel berührten. Welche Schmerzen musste dann erst Nadif ertragen!
Sie zog eine zusammengerollte Wolldecke aus der Satteltasche. Der Haushofmeister hatte den Befehl des Königs befolgt und alles, was ihn auf einer langen Reise nützlich dünkte, eingepackt.
»Nadif, Liebster, bitte lege dich doch ein wenig hin! Ich werde derweil die Pferde tränken!«
Sie hatte die Decke neben Nadif auf die Wiese gebreitet, doch er hockte noch immer da und sah sie verständnislos aus fieberweiten Augen an. Eine eisige Hand schien ihr Herz zu umklammern. Erkannte er sie überhaupt noch? Sanft, aber bestimmt griff sie nach seinen Schultern, sorgsam bedacht, seine Wunde nicht zu berühren, und drückte ihn nieder. Beklommen sah sie zu, wie sich dieser große starke Mann auf dem Boden zusammenrollte wie ein krankes Kätzchen. Eine fette Fliege ließ sich beinahe augenblicklich auf seiner Wange nieder.
»Bei allen Göttern, das fehlte noch, dass auch noch Maden an ihm herumkrabbeln!«, scheuchte Gerun das Insekt fort, das sich aber nicht sonderlich beeindrucken ließ. Nach einer kurzen Flugrunde landete die hässlich grün schillernde Fliege wieder.
»Lass’ die Fliege, wo sie ist, du dummes
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