Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
nicht zu ohrfeigen.
»Führt mich zu Janica!«, befahl sie so würdevoll als nur möglich. Anadid nickte dem Kerkermeister zu, der hinter Waja in der Tür der Folterkammer stand.
»Meine liebe Tante kann so lange bei der Verurteilten bleiben, wie sie es wünscht. Aber ein zweiter Besuch wird nicht erlaubt!«
Waja wandte sich schnell ab, um die Ausstattung des Raumes mit Utensilien, die keinen anderen Sinn besaßen als Menschen Schmerzen zuzufügen, und das falsche Lächeln ihres Neffen nicht länger ansehen zu müssen. Der Kerkermeister schob sich mit einem devoten Bückling an ihr vorbei und nahm eine Laterne von der Wand, um ihr zu leuchten.
Das war auch nötig, denn mit jedem Schritt weiter in die Eingeweide der Burg ließen sie das Tageslicht weiter zurück. Finster und modrig war der Gang, durch den der Mann die Schwester des Sultans führte. Er endete vor einer massiven Bohlentür.
Umständlich löste der Kerkermeister den Schlüsselbund von seinem Gürtel, nachdem er Waja wortlos die Lampe gereicht hatte. Eine gefühlte Ewigkeit suchte er nach dem richtigen Schlüssel, schob ihn ins Schloss und sperrte endlich das Verließ auf.
»Ihr könnt die Lampe mit hineinnehmen, Hohe Frau! Ruft laut nach mir, wenn Ihr gehen wollt!« Er machte eine einladende Geste zu der geöffneten Tür hin, die an diesem Ort reichlich deplaziert wirkte. Waja trat stumm in die Dunkelheit der Zelle. Hinter ihr fiel die Tür zu. Das Geräusch, mit dem der Riegel wieder in seinen Anker schnappte, ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken rieseln.
»Waja! Was wollt Ihr denn hier an diesem ungastlichen Ort?« Janicas Stimme klang leise, aber gefasst.
Waja hob die Lampe etwas an, der matte Schein der darin flackernden Kerze erhellte den düsteren Raum nicht wirklich und malte unheilvolle Schatten an die Wand. Die alte Frau brauchte eine Weile, bis ihre Augen den Dämmerschein durchdrangen. Dann sah sie Janica mit angezogenen Beinen auf der Strohschütte sitzen. Sie hatte ihre Arme um ihre Knie geschlungen und sah auf zu der unerwarteten Besucherin.
Mit einem leisen Ächzen ließ sich Waja neben ihr nieder und stellte die Laterne vor sich auf den Boden. Eine ganze Weile schwiegen die beiden Frauen, dann sagte Waja: »Ich kann nichts mehr für dich tun, Kind! Es tut mir leid, aber mein Bruder lässt dich sterben, um seinem Volk Avids Tod zu erklären. Ich konnte zumindest erreichen, dass Anadid dich nicht foltern darf!«
»Das ist gut!«, flüsterte Janica. »Wisst Ihr, Frau Waja, ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Vielleicht hat mich einfach nur mein Schicksal eingeholt. Ich sollte nämlich vom Drachen gefressen werden!«
Betroffen tätschelte Waja Janicas Hand. Die arme Kleine! Jetzt verlor sie schon den Verstand und redete irre! Vom Drachen gefressen! Vielleicht hatte auch Janica von den Gerüchten vom Drachenflug über Wasserland gehört und flüchtete sich jetzt angesichts des nahenden Todes in irgendwelche Fantasien?
Janica sprach unbeirrt weiter: »Nein, den Tod fürchte ich nicht, vielleicht sehe ich ja in der Unterwelt Avid wieder! Das wäre schön, nicht wahr? Aber Anadid, vor dem habe ich Angst! Er hat mich gebissen! Hier!«
Sie hob den Kittel und die Kleiderfetzen an, damit Waja ihre geschwollene und grindige Brust sehen konnte.
»Wie bitte?« Waja hob die Laterne etwas an und ließ sie gleich wieder bestürzt sinken. »Dieses perverse Schwein!«
Sie räusperte sich. »Entschuldige, Janica, eine Dame meines Standes sollte solche Worte nicht in den Mund nehmen! Aber manchmal verliert man eben die Contenance! Keine Sorge, der Sultan hat mir zugesichert, dass dich bis zu deiner Hinrichtung niemand mehr anfassen darf!«
»Danke!«, flüsterte Janica heiser. Waja hielt mit Mühe die Tränen zurück. Dieses arme Opferlämmlein bedankte sich auch noch dafür, dass sie die wenigen Tage bis zu seinem Tod unbehelligt in diesem Loch hocken durfte!
»Wenn du ein Geständnis ablegst, ist der Sultan bereit, dich vor der Verbrennung erwürgen zu lassen! Du würdest schnell und ohne großen Schmerz sterben!«
Janica verzog tatsächlich den Mund zu einem Lächeln, auch wenn es ein wenig verzweifelt wirkte.
»Klingt nicht besonders verlockend, Frau Waja! Nein, ich gestehe doch nichts, was ich nicht getan habe!«
»Du solltest dir das überlegen, Kindchen! Der Flammentod ist unendlich grausam!« Waja senkte die Stimme zu einem kaum hörbaren Raunen. »Wenn du eine Eingebung hast, wie wir dich retten könnten, dann
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