Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
sprich!«
Janica sah nachdenklich auf zu dem winzigen Lichtspalt in ihrer Kerkerzelle. Wenn sie sich wie Kana-Tu in einen winzigen Vogel verwandeln könnte, würde sie nur die Flügel breiten müssen, um in die Freiheit zu fliegen. Kana-Tu! Ja, er könnte sie retten! Doch würde er das auch wollen? Er hatte sie skrupellos dem Sklavenhändler überlassen! Wer weiß, vielleicht hatte sein Drachenonkel schon in einem anderen Land die nächste Jungfrau geraubt, mit der Kana-Tu ein Schwätzchen halten konnte?
»Vielleicht gibt es jemanden, der mich befreien kann!«, sagte sie zögernd.
»Dann sprich schon!« Waja neigte ihr den Kopf zu, damit Janica leise reden konnte. Die alte Frau konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier die Wände Ohren hatten.
»Der Sklavenhändler Hanad Gur Hanadem hat mich von zwei Männern übernommen, die Kajim und Kana-Tu heißen. Sie besitzen ein sehr schönes großes Haus irgendwo auf dem Land, ich weiß leider nicht, wo. Wahrscheinlich in der Nähe des Meeresufers. Diese Männer wären in der Lage, mir zu helfen. Ich weiß nur nicht, ob sie das möchten!«
»Ha! Das werde ich diesen Leuten schon einbläuen!« Waja gab sich entschlossen. »Ich weiß zwar nicht, wie zwei schlichte Sklavenfänger gegen den Herrscher des Wasserlandes ankommen wollen, aber wir werden es versuchen! Die Hoffnung, Janica, ist immer das Letzte, was uns bleibt!« Laut und deutlich setzte sie hinzu: »Hast du einen letzten Wunsch, den wir dir erfüllen können?«
Janica lächelte noch immer vage. »Würdet Ihr mir ein sauberes Gewand bringen lassen, Frau Waja? Das Grüne mit den Stickereien? Ich möchte nicht mit diesen Fetzen angetan sterben!«
Waja nahm die Lampe und stemmte sich mühsam auf.
»Das ist ein leicht erfüllbarer Wunsch! Ich denke, den wird dir niemand abschlagen!« Sie legte die freie Hand auf Janicas Kopf. »Den Segen aller Götter über dich, Mädchen! Ich glaube, Avid wäre mit dir sehr glücklich geworden!«
Sie wandte sich schon der Tür zu, um nach dem Kerkermeister zu rufen, als Janica sie nochmals ansprach: »Ist er wirklich tot? Avid?«
Waja sah der jungen Frau in die katzengrünen Augen, in denen ein kleines Flämmchen Hoffnung zu glühen schien.
»Mein Herz sagt, dass mein Neffe lebt. Mein Verstand schilt mich eine alte Närrin. Das Schiff ist zerborsten, das Meer ist abgrundtief. Was glaubst du?«
Die Hoffnungsfunken in Janicas Augen erloschen.
37.Kapitel: Wo wohnt die Hoffnung?
Hanad Gur Hanadem fühlte sich sehr geschmeichelt, als die Schwester des Sultans ihn zu sich bestellte. Allerdings galt Waja Gura Waradem als sehr exzentrisch, und das Angebot an Sklaven war begrenzt. Er war sich nicht sicher, ob er ihre Wünsche – warum sonst sollte sie ihn rufen lassen? – erfüllen konnte. Seit Prinz Anadid die letzten Rebellennester in den Bergen im Inneren der Insel ausgehoben hatte, gab es in Wasserland kaum noch Nachschub für seine Geschäfte. Treue Untertanen des Sultans durften nicht als Sklaven eingefangen und verkauft werden. Auch Steuerschuldner, die zur Begleichung ihrer Gebühren Familienangehörige oder gar sich selbst in die Sklaverei geben mussten, waren äußerst selten geworden. Den Bewohnern Wasserlands ging es gut, es waren wirklich harte Zeiten für einen Menschenhändler!
Die Hohe Frau empfing den Händler in Avids offiziellem Besuchersaal, der freilich bedeutend kleiner war als der Audienzsaal des Sultans. Sie saß kerzengerade auf dem Diwan, umgeben von einem Wust aus Kissen und Decken. Neben ihr stand La’ad, um allen Anstandsregeln gerecht zu werden. Eine Dame von Stand empfing nie ohne Haremswächter als Beschützer einen fremden Mann. La’ad trug dem offiziellen Anlass gemäß über seiner Pluderhose einen prächtigen Kaftan und gab sich redliche Mühe, nicht auf seine Lanze gestützt einzunicken.
Hanad verneigte sich tief vor Waja.
»Es ehrt mich, Euer Haus betreten zu dürfen!«, dienerte er.
Sie nickte ihm schweigend, und wie sie fand, recht huldvoll zu. Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihm, sich auf die Polster vor dem Diwan niederzulassen. Ein Diener betrat den Raum und reichte Waja und ihrem Besucher auf einem Tablett Kelche aus geschliffenem Glas. Erst als Waja an dem Getränk nippte, wagte auch Hanad, einen Schluck zu nehmen. Beinahe hätte sich der Händler verschluckt. Er hatte den üblichen Maulbeerwein erwartet, aber es war richtiger Wein, der da seine Zunge netzte. Trauben wurden nur auf wenigen, geschützt vor den
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